Prof. Horst Seidl (Lateran-Univ., Rom)

Rom, Juni 2008

 

Kulturelle Begegnung mit chinesischen Kollegen

 

            Seit vier Jahren stehe ich mit chinesischen Kollegen in einem wertvollen kulturellem Austausch, über den ich hier berichten möchte. Ich hatte ihn aus zwei Gründen gesucht: Der erste war, dass in meinem Fachbereich Philosophie an der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom keine chinesischen Studenten oder wissenschaftlichen Forscher anzutreffen sind. Nur an theologischen Instituten finden sich einige Theologiestudenten aus China und Korea. Dagegen haben die naturwissenschaftlichen Fachbereiche an den Staatlichen Universitäten eine größere Anzahl von Studenten und Forschern aus den östlichen Ländern. Der andere Grund war, dass in China, nach seiner Öffnung zum Westen, im Fach Philosophie nur moderne Richtungen - vor allem mit Kant, Hegel, Nietzsche, Heidegger, Popper und Habermas - aufgenommen und studiert werden, hingegen die aus Antike und Mittelalter kommende Tradition bislang nur wenig berücksichtigt wird, offenbar beeindruckt von den modernen Kritikern an ihr, die diese Tradition für überholt erklären. So reiste ich 2005 erstmals nach China in der Absicht, mit chinesischen Kollegen über die philosophischen Texte des antiken und mittelalterlichen Erbes mehr ins Gespräch zu kommen.

            Erwähnen möchte ich, dass ich in den vorhergegangenen vier Jahren Reisen nach Japan unternahm, auf Einladung von Freunden, die in München Heideggers Philosophie studiert haben und nun in Japan unterrichteten. Doch ein Dialog erwies sich als schwierig wegen des in Japan verbreiteten Buddhismus, der in akademischen Kreisen unlöslich mit Philosophie verbunden ist. Dabei beruft er sich auf moderne Westliche Denker, vor allem auf Fichte, Hegel und Heidegger, in denen sich ebenfalls Religion und Philosophie unlöslich vermischen. Es gelang mir nicht, die Kollegen zu überzeugen, dass Religion und Philosophie im Westen sich als zwei verschiedene Tätigkeiten des Menschen entwickelt haben, mit je eigenen Zielen und Einstellungen der Seele. Auf die methodische Unterscheidung kam viel an; denn während auf religiösem Gebiet die unterschiedlichen Überzeugungen mit Toleranz zu achten sind, lebt die Philosophie vom Dialog gegensätzlicher Ansichten, der argumentativ in Kritik und Gegenkritik geführt wird, um Probleme zu lösen und zu wahrer Erkenntnis zu gelangen. Der eine muss vom anderen Kritik erbitten, nicht Toleranz fordern. Als ich aber bei den japanischen Kollegen philosophische Kritik an Fichte, Hegel und Heidegger übte, die für sie religiöse Autoritäten sind, schien ich ihnen intolerant zu sein.

In China hingegen war die Lage anders; denn es herrschte dort eine Vielheit von Religionen, mit der Tendenz, sich nicht leicht auf eine einzige festzulegen und Philosophie unabhängig von ihnen zu betreiben. An der Normal University in Shanghai fand ich bei Kollegen Interesse für die Westliche Philosophie-Tradition aus Antike und Mittelalter, vor allem auch wegen des im modernen Kritizismus verloren gegangenen – natürlichen Realismus, dem der einfache Sinn der Chinesen zugetan ist, und den sie bei den antiken Klassikern wiederentdecken, nicht nur im Westen, sondern auch bei sich im Osten. In den Jahren 2006 und 2007 wurde ich zu Vorträgen eingeladen über Themen der traditionellen Metaphysik, Naturphilosophie, Anthropologie und Ethik (bei Platon, Aristoteles, Plotin, Thomas v. Aquin). die Studenten stellten viele Fragen: über Substanz, Realität und Wesenheit der Dinge, über Seinsanalogie, über Natur und Kultur, über Seele, Person, Freiheit u.a.m.

            Inzwischen wurden im Laufe von vier Jahren Professoren mit je einem ihrer Studenten an unsere Philos. Fakultät der Lateran-Universität / Rom eingeladen, wofür ich bis heute dem Rektor, S.E. Monsignore Rino Fisichella, sehr zu Dank verbunden bin. Auf diese Weise konnte sich mit den chinesischen Freunden ein nachhaltiger Gedankenaustausch entfalten, aus dem ich hier vier Themen auswählen und kurz darlegen möchte. Ich vereinbarte mit jedem der Kollegen, um zu einer Zusammenarbeit zu gelangen, jeweils ein bestimmtes Thema, das gemeinsam besprochen wurde. Die Ergebnisse wurden nachher in schriftlicher Form festgehalten und kamen teilweise zur Publikation.

            1. Ein erstes Thema betraf die Begegnung zwischen chinesischer und europäischer Kultur, für dessen Behandlung eine jüngere Publikation diente.[1] Sie bewegt sich auf der Ebene der Sprachanalyse, sowie der sozialen Kommunikationswissenschaften, und stellt hier die Verschiedenheit der Sitten heraus, die auch ein kultureller Ausdruck sind. Als ein Beispielfall wird das verschiedene Verhalten eines amerikanischen und eines chinesischen Handelsmannes bei ihrer ersten Begegnung analysiert. Während nach dem Austausch der Visitenkarten der Amerikaner sogleich zum Gebrauch des Vornamens des chinesischen Partners übergeht, in der Meinung, somit eine herzliche Ausgangsbasis zu schaffen, empfindet dies der Chinese als peinlich oder geradezu als unhöflich, da in China der Vorname nur zwischen Familienangehörigen gebraucht wird. Umgekehrt ist der Amerikaner unangenehm berührt, dass der chinesische Partner beim Gebrauch seines Nachnamens bleibt. Freilich müsste m.E. die kulturphilosophische Reflexion auf die eigentümliche kulturelle Verschiedenheit tiefer die seelisch menschlichen Haltungen analysieren, also nicht bei verschiedenen Konventionen stehen bleiben (von denen im Übrigen gebildete Menschen heute Kenntnis haben sollten).

            2. Da die Konversation zwischen den chinesischen Kollegen und mir jeden von uns zur Rückbesinnung auf seine kulturelle Identität veranlasste, war es fast zwangsläufig, dass sie zu antiken Quellen zurückführte, die für einen Chinesen immer noch in Kongtse / Konfuzius und Laotse liegen, mit ihrer konfuzianischen und taoistischen Tradition, und für einen Europäer immer noch in griechisch-römischer Philosophie, Römischem Recht und christlicher Glaubenslehre auszumachen sind. So ergab sich ein zweites Thema, das die Vergleichbarkeit zwischen Konfuzius (551-479 v.Chr.) und Sokrates (470-399 v.Chr.) betraf. Sie stellte schließlich als Gemeinsames zwischen beiden Denkern in Ost und West eine gewisse Weisheit heraus, die den Menschen noch eingefügt sieht in die staatliche Gemeinschaft einerseits und in den großen Zusammenhang der Natur, zwischen Erde und Himmel andererseits.[2] Beide treten für die Tugend der Gerechtigkeit ein, die in Harmonie ist mit der staatlichen Ordnung. Für beide gilt auch, dass der Mensch dank seiner rationalen Natur gut ist. Diese Ansicht vertrat auch Kongtses Schüler Mengtse, zu der dann Xuntse die Gegenansicht aufstellte, dass der Mensch von Natur böse sei und nur durch Erziehung zu einem guten, tugendhaften Leben gebracht werde. Im Westen finden wir die entsprechende Gegenansicht zu Sokrates und Platon bei den Sophisten, für welche die Natur des Menschen triebhaft böse sei und nur durch Gesetz oder Konvention zu gutem sozialem Verhalten gezwungen werde. Gemeinsam ist bei Konfuzius und Sokrates auch, dass ihre Weisheit einen religiösen Ursprung hat und mit der frommen Verehrung eines göttlichen, himmlischen Wesens verbunden ist.

            Doch bemerkte ich hier auch eine Verschiedenheit; denn bei Sokrates entfaltet sich ein Dialog, der einen Gegenstand untersucht, z.B. das Gute, oder das Gerechte, mit dem anfänglichen "Nichtwissen", einem Problembewusstsein, nämlich zunächst noch nicht das Wissen zu besitzen, das die Vernunft sucht, was nämlich der Gegenstand, z.B. das Gute oder Gerechte, seinem Wesen nach sei. Die Untersuchung führt schließlich zur "Definition" seines Wesens, die erstmals Sokrates eingeführt hat. Beim chinesischen Weisen, der zu frommen und moralischen Lebensregeln gelangt, findet sich dieses methodische Vorgehen nicht, das aber gerade das Eigentümliche der Philosophie ist, wie sie sich nur im Abendland ausgebildet hat, beginnend bei den Vorsokratikern, die nach ersten Prinzipien / Ursachen fragten, um aus ihnen die Naturphänomene erklären zu können. Darin lag der Anfang der sich dann nur in Europa ausbildenden Wissenschaften.

            3. Ein hierzu verwandtes Thema betraf den Vergleich zwischen dem chinesischen "Tao" und dem "Weg" (hodós) bei Heraklit. Gemeinsam ist beiden, dass sich die menschliche Vernunft auf einem Weg befindet. Auf ihm bewegt sie sich von den irdischen Sinnesdingen hier zu einem göttlichen Prinzip hin, aus dem alles hervorgegangen ist. Doch der Unterschied liegt darin, dass das chinesische Tao ein religiöser Weg ist, der die Seele von der Zerstreutheit in die vielen Sinnesdinge zur inneren Einheit und sittlichen Vollkommenheit in dem einen göttlichen Urgrund hinaufführen will. Anders bei Heraklit, der zum ersten Mal den Begriff der Philosophie einführt,[3] in der Bedeutung der Erforschung der Natur, wo der "Weg" sowohl das gesetzmäßige Walten des Naturprinzips in allen Veränderungen der Dinge bezeichnet, als auch das methodische Vorgehen der philosophischen Untersuchung. "Methode", méthodos leitet sich von hodós ab.

            Es war mir möglich, mit den chinesischen Freunden auch über die christliche Religion zu sprechen, und zwar auf religionsphilosophischer Ebene; denn unsere Begegnungen sollten, wie vereinbart, im akademisch wissenschaftlichen Rahmen der Philosophie bleiben. Am Rande kamen wir auch auf das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Europa und in China zu sprechen. Die chinesische Regierung gewährt den verschiedenen Gemeinschaften Religionsfreiheit, was etwas sehr Positives ist. Nicht geduldet wird vom Staat, wenn Priester Kritik an der Regierung üben (z.B. wegen Verletzung von Menschenrechten) und im "Untergrund" leben.

 



[1] Ron Scollon – Suzanne Wong Scollon, Intercultural Communication: A Discourse Approach, London 1995 (sale in People's Republic of China only).

[2] Hierzu ist ein Artikel entstanden, der vom Kollegen Prof. Zhiping Zhang veröffentlicht worden ist: Da Confucio in avanti. Lo spirito della filosofia cinese nella tradizione confuciana, in: I Martedí (29), Bologna 2005, 16-25.

[3] Siehe Fragment 35: "Gar vieler Dinge Forscher (hístoras) müssen philosophische Männer (philosóphous ándras) sein".