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autore: Aureliana Sorrento 
Data di pubblicazione: 23/09/99
Berlinonline.de

Novecento. Die Legende vom OzeanpianistenDie Frage bewegt Alessandro Baricco seit Jahren: 
"Wer weiß, ab wann eine Jacke tadellos paßt, wer weiß, was ausschlaggebend dafür ist, wann ein Bild nicht mehr kann und herunterfällt oder wann ein seit Jahren regloser Stein sich eine Spur dreht."
Er hat sie in seinem ersten Roman, "Castelli di rabbia", formuliert, der in Italien 1991 erschienen ist. In Deutschland ist der Roman allerdings erst im letzten Jahr herausgekommen, mit dem Titel "Land aus Glas".

Seither wirft der Schriftsteller die Frage in jedem neuen Roman wieder auf, man merkt es nur nicht. Denn Baricco tut es nur so nebenbei, als handle es sich um Seifenblasen, die er zwischen die Zeilen pustet. Sie fesseln ihn und den Leser sekundenlang, um gleich zu platzen. Denn prompt kommt ein Satz, wie: "Jedenfalls saß sie tadellos", daran gibt es nichts zu zweifeln, und das Leben geht weiter. Es war nur ein Spuk. 

Die entscheidenden Momente 
In der jüngsten Erzählung von Baricco, "Novecento", ist die Frage aber strategisch in der Mitte des Büchleins plaziert und nimmt die ansehnliche Länge von eineinhalb Seiten ein. Noch einmal findet sich hier die Metapher von den Bildern, die herunterfallen, plötzlich, ohne Warnung, niemand weiß warum. Es sind die Momente, in denen das Leben einen Knacks macht und sich für etwas entscheidet. Ganz alltägliche, ganz gewöhnliche Momente, in der Regel nimmt man sie gar nicht wahr. Botho Strauß hat sie in mancher Erzählung mit dem Sezierbesteck auseinandergenommen. Baricco liest sie auf und baut drumherum märchenhafte Luftschlösser. 
In "Novecento" steigt eines Tages der Held aus seinem Bett und entscheidet, den Ozeandampfer, auf dem er geboren ist und sein ganzes bisheriges Leben verbracht hat, für immer zu verlassen. So, plötzlich, ohne Vorwarnung, ohne ersichtlichen Grund. Ebenso unmotiviert bleibt er dann auf der dritten Stufe der Gangway stehen, verweilt einen Augenblick und kehrt an Bord zurück. So, plötzlich, niemand weiß warum. Das Leben geht weiter, es war nur ein Spuk. 
Das Leben, durch das Bariccos Held geht, ist ein höchst phantastisches Gefilde. Sein Name schon klingt wie die Lautung aller erfindlichen Unwahrscheinlichkeiten: Danny Boodmann T.D. Lemon Novecento und wie ein Anagramm für jazzliebende Musikwissenschaftler. Danny Boodmann T.D. Lemon Novecento hat aber gar keine Ahnung von Jazz. Wenn er Jazz auf seinem Klavier spielt, ist das nur Zufall, ein von der auktorialen Schaltstelle bestimmter Zufall. Aus solchen Zufällen hat Baricco seine Geschichte wie ein perfekt symmetrisches Spinnennetz gewoben. 
Novecento kommt auf dem Ozeandampfer zur Welt, wo sich seine ganze Existenz abspielen wird. In einer Zitronenkiste mutmaßlich von armen Emigranten hinterlassen, wird er dort von einem farbigen Maschinisten gefunden, der ihn großzieht und stirbt, als Novecento acht Jahre alt ist. Eines Tages kann Novecento Klavier spielen, was natürlich aus heiterem Himmel eintritt wie alles andere in seinem Leben. Fortan spielt er bis zu seinem Lebensende eine Musik, die keine Partitur braucht und niemand je gehört hat: die Musik des Ozeans. Eine Musik, die Toni Morrisons Jazz in der Fifth Avenue seltsam ähnlich klingt. "Wir spielten", sagt der fiktive Erzähler, dem Baricco die Geschichte seines Helden in den Mund gelegt hat, "weil der Ozean groß ist und angst macht, wir spielten, damit die Leute ( ) vergaßen, wo sie waren und wer sie waren. Wir spielten, damit sie tanzten, denn wenn du tanzt, kannst du nicht sterben, und du fühlst dich göttlich." 

Der Zufall in der Geometrie 
So, im Tanzrhythmus, schwingt sich Bariccos Prosa von einem Takt zum anderen, von einem Wellenkamm zum anderen, und lullt den Leser in seine Märchenwelt ein, die nach Salz riecht, die nach Jazz klingt und nach einer sonderbar heimeligen Unendlichkeit schmeckt. Man liest und es ist, als ob man in Wirklichkeit tanzt, und man fühlt sich göttlich. Man liest bis zum Ende, man schaut zu, wie sich der Held aus einem zur Notwendigkeit gewordenen Zufall in die Luft jagt, man schaukelt sich weiter in den melancholischen Schwingungen dieser Prosa, man bekommt feuchte Augen und übersieht dabei die Hauptsache: Da ist eine Vita aus Zufälligkeiten entstanden, die aber keine Brüche im Ganzen bewirken. Tragisch, aber unabdingbar. Da hat jemand den Zufall in die Geometrie gejagt. Passiert das eigentlich nicht jeden Tag und jedem? 

Alessandro Baricco: Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten. 
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Piper Verlag, München 1999, 80 S., 24 Mark.
 

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