Seither
wirft der Schriftsteller die Frage in jedem neuen Roman wieder auf, man
merkt es nur nicht. Denn Baricco tut es nur so nebenbei, als handle es
sich um Seifenblasen, die er zwischen die Zeilen pustet. Sie fesseln ihn
und den Leser sekundenlang, um gleich zu platzen. Denn prompt kommt ein
Satz, wie: "Jedenfalls saß sie tadellos", daran gibt es
nichts zu zweifeln, und das Leben geht weiter. Es war nur ein Spuk.
Die
entscheidenden Momente
In der jüngsten Erzählung von Baricco, "Novecento", ist die
Frage aber strategisch in der Mitte des Büchleins plaziert und nimmt
die ansehnliche Länge von eineinhalb Seiten ein. Noch einmal findet
sich hier die Metapher von den Bildern, die herunterfallen, plötzlich,
ohne Warnung, niemand weiß warum. Es sind die Momente, in denen das
Leben einen Knacks macht und sich für etwas entscheidet. Ganz
alltägliche, ganz gewöhnliche Momente, in der Regel nimmt man sie gar
nicht wahr. Botho Strauß hat sie in mancher Erzählung mit dem
Sezierbesteck auseinandergenommen. Baricco liest sie auf und baut
drumherum märchenhafte Luftschlösser.
In "Novecento" steigt eines Tages der Held aus seinem Bett und
entscheidet, den Ozeandampfer, auf dem er geboren ist und sein ganzes
bisheriges Leben verbracht hat, für immer zu verlassen. So, plötzlich,
ohne Vorwarnung, ohne ersichtlichen Grund. Ebenso unmotiviert bleibt er
dann auf der dritten Stufe der Gangway stehen, verweilt einen Augenblick
und kehrt an Bord zurück. So, plötzlich, niemand weiß warum. Das
Leben geht weiter, es war nur ein Spuk.
Das Leben, durch das Bariccos Held geht, ist ein höchst phantastisches
Gefilde. Sein Name schon klingt wie die Lautung aller erfindlichen
Unwahrscheinlichkeiten: Danny Boodmann T.D. Lemon Novecento und wie ein
Anagramm für jazzliebende Musikwissenschaftler. Danny Boodmann T.D.
Lemon Novecento hat aber gar keine Ahnung von Jazz. Wenn er Jazz auf
seinem Klavier spielt, ist das nur Zufall, ein von der auktorialen
Schaltstelle bestimmter Zufall. Aus solchen Zufällen hat Baricco seine
Geschichte wie ein perfekt symmetrisches Spinnennetz gewoben.
Novecento kommt auf dem Ozeandampfer zur Welt, wo sich seine ganze
Existenz abspielen wird. In einer Zitronenkiste mutmaßlich von armen
Emigranten hinterlassen, wird er dort von einem farbigen Maschinisten
gefunden, der ihn großzieht und stirbt, als Novecento acht Jahre alt
ist. Eines Tages kann Novecento Klavier spielen, was natürlich aus
heiterem Himmel eintritt wie alles andere in seinem Leben. Fortan spielt
er bis zu seinem Lebensende eine Musik, die keine Partitur braucht und
niemand je gehört hat: die Musik des Ozeans. Eine Musik, die Toni
Morrisons Jazz in der Fifth Avenue seltsam ähnlich klingt. "Wir
spielten", sagt der fiktive Erzähler, dem Baricco die Geschichte
seines Helden in den Mund gelegt hat, "weil der Ozean groß ist und
angst macht, wir spielten, damit die Leute ( ) vergaßen, wo sie waren
und wer sie waren. Wir spielten, damit sie tanzten, denn wenn du tanzt,
kannst du nicht sterben, und du fühlst dich göttlich."
Der
Zufall in der Geometrie
So, im Tanzrhythmus, schwingt sich Bariccos Prosa von einem Takt zum
anderen, von einem Wellenkamm zum anderen, und lullt den Leser in seine
Märchenwelt ein, die nach Salz riecht, die nach Jazz klingt und nach
einer sonderbar heimeligen Unendlichkeit schmeckt. Man liest und es ist,
als ob man in Wirklichkeit tanzt, und man fühlt sich göttlich. Man
liest bis zum Ende, man schaut zu, wie sich der Held aus einem zur
Notwendigkeit gewordenen Zufall in die Luft jagt, man schaukelt sich
weiter in den melancholischen Schwingungen dieser Prosa, man bekommt
feuchte Augen und übersieht dabei die Hauptsache: Da ist eine Vita aus
Zufälligkeiten entstanden, die aber keine Brüche im Ganzen bewirken.
Tragisch, aber unabdingbar. Da hat jemand den Zufall in die Geometrie
gejagt. Passiert das eigentlich nicht jeden Tag und jedem?
Alessandro
Baricco: Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Piper Verlag, München 1999, 80
S., 24 Mark.
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