Prof. Horst Seidl (Lateran-Univ., Rom)
Schauspiel und Moral bei Fr.
Schiller
Kunstphilosophische
Bemerkungen im Gedenkjahr des Dichters († 1805)
Der von Friedrich Schiller 1787 vor der Kurpfälzischen
Gesellschaft gehaltene Vortrag, bekannt unter dem Titel "Die Schaubühne
als moralische Anstalt betrachtet", hat ihm die äußerliche Kritik des
Moralismus zugezogen, wie sie in gehässiger Form Fr. Nietzsche zum Ausdruck
bringt, der Schiller als "Moraltrompeter von Säckingen" anprangert.
Der ursprüngliche Titel des Vortrages hingegen lautet: "Was uns eine gute
stehende Schaubühne wirken kann", und entspricht besser dem auf den hohen
Zweck des Schauspieles abzielenden Inhalt, der kein moralisierender sondern ein
künstlerischer ist, wohl aber eine moralische Wirkung aufs Publikum hat. Meine
hier vorgebrachten Bemerkungen widmen sich gerade der im vortrefflichen Vortrag
enthaltenen Kunsttheorie Schillers, die an Gotthold Ephraim Lessings "Hamburgische
Dramaturgie" anschließt. Beide Dichter waren bemüht, das Schauspiel zu
reformieren und ihm ein höheres Ansehen zu verschaffen, als ihm in jener Zeit
beschieden war.[1]
Es hängt wohl mit dem bis heute
andauernden Vorurteil des Moralismus wie auch mit dem hohen moralischen
Anspruch seiner Werke zusammen, daß Schiller gegenüber einem moralisch
schwachen Zeitgeist der Gegenwart nicht die gebührende Beachtung geschenkt
wird. Blickt man in Veranstaltungskalender zum Schiller-Jahr, so werden darin
weder die ästhetischen Schriften, noch die Meisterdramen des Dichters
hinsichtlich der moralischen Bildung genügend gewürdigt. Im folgenden
analysiere ich zuerst den Inhalt von Schillers Vortrag, um ihn dann
kunstphilosophisch auszuwerten.
Ein einleitender Teil hebt
hervor, daß das Thema die Würde und den Stolz unserer Geistesnatur berührt,
weshalb seine Behandlung den Einsatz der Kräfte unseres Geistes beansprucht, ja
entschieden Mut und Selbstvertrauen in ihm hebt. Das Ziel der Schaubühne ist
erhaben; denn es trägt wesentlich zur Bildung des Menschen bei. Es hält ihm
gleichsam einen Spiegel vor und zeigt ihm, wer er ist. Schiller übt Kritik an
Zeitgenossen, die Stolz und Selbstachtung nur im Äußerlichen fühlen, in Ämtern
und Regierungsgeschäften, in pedantischer Gelehrsamkeit. Sie werden der
Schaubühne und ihrem hohen geistigen Bildungsideal kein Interesse abgewinnen.
Schiller hält es daher für notwendig zu zeigen, "daß die Schaubühne
Menschen- und Volksbildung wirke" (720);[2] denn der Mensch hat nicht nur das Bedürfnis
seiner animalischen Natur, sondern vorzüglicher und unerschöpflicher das
"Bedürfnis des Geistes", und die dramatische Kunst beschäftigt
"alle Kräfte der Seele, des Geistes und des Herzens".
Im Hauptteil geht Schiller vom Ursprung
der Schauspielkunst aus und sieht ihn wie Johann Georg Sulzer formal im
menschlichen "Trieb nach Tätigkeit" (721), welche weder in der
Berufsarbeit, den "niederdrückenden Geschäften" des Geistes, noch in
den Vergnügungen der Sinnlichkeit allein zu finden ist, sondern in einem
"mittleren Zustand", der beide Extreme harmonisch ausgleicht in einem
"ästhetischen Sinn", dem "Gefühl für das Schöne": eine
Tätigkeit, die "jeder Seelenkraft Nahrung gibt, ohne eine einzige zu
überspannen, und die Bildung des Verstandes und des Herzens mit der edelsten
Unterhaltung vereinigt".
Hierin ist die Schauspielkunst verwandt
der Religion, welche Gesetz und Morallehre mit der Stimme des Herzens und dem
Gefühl unterstützt. Schiller versteht hier Religion als "politische",
das heißt als bürgerliche, natürliche religiöse Haltung, im Unterschied zur
Religion der christlichen Offenbarung. So auch die Bühne: Sie ist eine
"Verstärkung für Religion und Gesetze", durch Anschauung und
lebendige Gegenwart von Tugend und Laster, Glückseligkeit und Elend, Weisheit
und Torheit.
Schiller kommt dann auf die inhaltliche
Seite des Schauspieles zu sprechen, "das ganze Reich der Phantasie und
Geschichte, Vergangenheit und Zukunft" (722-723), und legt jene
Gesichtspunkte dar, die auf Moral und Charakter des Publikums wirken. Ein
erster Punkt ist die poetische Gerechtigkeit. Das Schauspiel stellt z.B. das
schändliche Leben von Verbrechern dar, den Mord an Mitmenschen, den Selbstmord
und viele Laster, vermag aber in der Weise der Darstellung im Zuschauer Abscheu
vor diesen Untaten zu erwecken und einen Ansporn zu Tugenden zu geben. Die
Bühne läßt den Freveln und Lastern die Strafe folgen, wo sie in der
Wirklichkeit ungestraft bleiben, stellt Ideale in anreizender Form dar und
"spricht die Moral des gemeinen Mannes" an. Sie regt zur Nachahmung
von Tugenden an, stärker als der tote Buchstabe des Gesetzes oder eines
Handbuches der Moral.
Die Bühne wirkt auf das Publikum besonders
dadurch, daß sie uns Menschen darstellt, wie dies Schiller in Shakespeares
Dramen bewundert, die in uns "Menschenempfindungen" wecken, und
hiermit etwas "für unsere Bildung" leistet (724). Sie deckt hinter
den Verbrechen die Torheit und menschliche Schwäche auf. Sie gewährt uns
Einsicht in das menschliche Leben und stärkt das Herz gegen die Schwächen in
uns. – Die Komödie belacht die Schwächen des Menschen, die Tragödie weckt
Mitleid.
Schiller knüpft an das Vorbild des antiken
Theaters an, das nach aristotelischer Lehre eine "Reinigung der
Affekte" bewirkt, durch das Erwecken von "Furcht und Mitleid",
und bemerkt, daß eine gute Bühne uns Mitleid und Nachsicht mit den Leidenden
empfinden läßt, ja sogar auch gegenüber Übeltätern, wenn sie zur Tat durch ein
hartes Schicksal getrieben werden und in tiefes Unglück fallen.
Er stellt weiter fest: Die Schaubühne ist
"eine Schule der praktischen Weisheit" (725-726); sie erschließt
"die geheimsten Zugänge der menschlichen Seele". Wenn sie auch uns
Menschen nicht besser macht, so macht sie uns doch wenigstens mit den Schwächen
und Lastern des Menschen bekannt.[3] Sie lehrt uns ferner, mit dem eigenen
Lebenslos zufrieden zu sein und Schicksalsschläge geduldig zu ertragen. Mit
begeisterten Worten spricht Schiller vom "Verdienst der bessern Bühne um
die sittliche Bildung", "um die ganze Aufklärung des Verstandes".
Sie bildet uns auch zur Toleranz unter den Religionen und bekämpft Irrtümer auf
dem Gebiet der Erziehung, das vom Staat häufig vernachlässigt wird. Sie stärkt
schließlich den "Nationalgeist" eines Volkes, wenn sie eine
Gemeinsamkeit jener Meinungen und Neigungen befördert, die für ein Volk
charakteristisch sind, im Unterschied zu andern Völkern (727).
Am Schluß kehrt Schiller wieder zu dem
eingangs erwähnten Wesen des Schauspiels zurück, wonach in seiner Tätigkeit
sich Sinnlichkeit und Geist verbinden, Beschäftigung und Muße. In ihr
vereinigen sich, wie es nun weiter heißt, "Vergnügen mit Unterricht, Ruhe
mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung" (728-729). Gegenüber der Last der
Arbeit des Alltags gewährt die Schaubühne "gesellschaftliche Ergötzlichkeit".
"In dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden
uns selbst wiedergegeben." Das heißt, wir machen Erfahrung mit unserem
Innenleben, unseren Empfindungen und Leidenschaften, mit der in uns
"schlummernden Natur", "ihrer selbst und der Welt vergessen"
(der Wirklichkeit der Außenwelt). Sie gibt unserer Empfindung Raum, "ein
Mensch zu sein".
Gehen wir die wichtigen
Aussagen des Vortrages nochmals durch, soweit sie unser Thema des Verhältnisses
von Schauspielkunst und Moral betreffen, um sie nach folgenden Gesichtspunkten
auszuwerten:
Die Bestimmung der Schauspielkunst als
einer Tätigkeit des Menschen, die verschieden von der Berufsarbeit aber auch
von Vergnügungen ist, läßt noch die klassische, aristotelische Gliederung des
menschlichen Lebens in drei Bereiche erkennen, nämlich in den der Arbeit und
den der Muße, wobei sich der letztere wieder in den der ernsten und der
spielerischen Tätigkeiten gliedert. Die Schauspielkunst gehört der Muße an,
griech. scholé, latein. otium. Aus dem lateinischen Lehnwort schola,
ist das deutsche "Schule" abgeleitet, das den von Arbeit freien
Bereich bezeichnet, mit seinen ernsten Tätigkeiten der Bildung, verschieden von
den spielerischen Tätigkeiten zur Erholung des Geistes. Das Schauspiel hat an
sich einen ernsten Bildungszweck, bietet ihn aber in spielerischer Form dar.
Daher hat das Schauspiel zwei Seiten: Wir können es mit Vergnügen auf der Bühne
anschauen, sowie mit Ernst betrachten und im Unterricht studieren.
Der ernste Zweck des Schauspieles liegt in
der Absicht des Künstlers, dem Publikum etwas Bedeutsames über den Menschen,
sein Leben, seine Leidenschaften, Tugend und Laster, sein Schicksal usw.
mitzuteilen. Dies erfolgt aber nicht in praktisch-moralischen Anweisungen, die
zum Handeln anleiten, sondern in beschaulicher Form, die zu ergötzlicher
Betrachtung einladen.
Keinesfalls treffen wir bei Schiller einen
Moralismus an. Nach seiner Theorie soll der Dichter weder von der Bühne aus
Moral predigen, noch auch nur tugendhafte Handlungen vorstellen. Vielmehr geht
es häufig um die Darstellung lasterhafter, ja verbrecherischer Handlungen. Aber
das gute Schauspiel zeichnet sich durch das Wie der Darstellung aus, daß es
nämlich die schlechten Handlungen als abgründig, eitel und töricht vorführt,
mit einer abstoßenden, abschreckenden Wirkung auf den Zuschauer, die
tugendhaften Handlungen dagegen als innerlich wertvoll, klug und anziehend.[4]
Im Unterschied zu einer wissenschaftlichen
Abhandlung teilt sich der Dichter nicht in dieser Form mit, sondern im Medium
symbolträchtiger Bilder, einer "künstlichen Welt", um durch sie etwas
Bedeutsames über das menschliche Leben in der wirklichen Welt auszusagen.
Hieraus ergibt sich zweierlei:
Erstens ist die Mitteilung zwischen
Dichter und Zuschauer nicht nur eine von Verstand zu Verstand, sondern auch von
Herz und Gemüt zu Herz und Gemüt. Ja, sie beschäftigt, wie Schiller sagt, alle
Kräfte der menschlichen Seele und des Geistes. Zweitens, da der eigentliche
Zweck des Schauspieles nicht darin liegt, vor dem Zuschauer eine künstliche
Welt erstehen zu lassen, sondern durch sie als Medium etwas Bedeutsames über
den Menschen und sein Leben in dieser wirklichen Welt auszusagen, hat die
künstliche Welt auf diese wirkliche Welt einen Bezug, durch einen Aussagegehalt:
Der Zuschauer soll nach dem Schauspiel in diese Welt zurückkehrend sie mit
anderen Augen sehen, besser verstehen. Das Talent des Künstlers, seine
Weisheit, liegt gerade darin, die geeigneten symbolträchtigen Bilder zu finden,
welche uns etwas Bedeutsames, Hintergründiges hinter der Oberflächliche dieser
wirklichen Welt aufdecken.
Zur künstlichen Welt des Dichters gehört
die Schönheit, um auch das Herz oder das Gefühl des Menschen umso intensiver
daran teilnehmen zu lassen, durch den "ästhetischen Sinn", das Gefühl
für das Schöne. Damit verbindet sich das Vergnügen, die Lust.
Nach Schiller muß sich die künstlerische
Inspiration der Bilder bei der Schöpfung seines Werkes von einer bestimmten
Idee leiten lassen, mit dem bedeutungsvollen Gehalt, den das Werk dem Publikum
mitteilen will. Bei Goethe hingegen läßt sich die schöpferische Inspiration der
Bilder vom Naturtalent des Künstlers selber leiten. Die darin liegende Idee macht
er sich erst nachträglich reflektierend bewußt.[5]
Es kann hier nur erwähnt werden, daß sich
von der traditionellen Theorie des Schauspiels, der auch Schiller verpflichtet
ist, wie oben dargelegt, jüngere Theorien gänzlich unterscheiden, da sie den
Zweck nicht mehr in der Aufdeckung eines Bedeutungsvollen in der wirklichen
Lebenswelt des Menschen sehen, sondern in der Schöpfung der künstlichen Welt,
im Drama, wie auch im Roman, und in der ihnen einzustiftenden Schönheit. Dies
führt zum gegenwärtigen Ästhetizismus, mit dem Selbstzweck der zu genießenden
Schönheit der Kunstwerke.
Nach einer heute verbreiteten Kunsttheorie
wird der wirklichen Welt, einschließlich des Menschen, ein bedeutungsvoller
Hintergrund abgesprochen. Stattdessen soll die künstliche Welt (des Theaters
oder des Romans), als Endzweck des Dichterschaffens, zum eigentlich
Sinnstiftenden des menschlichen Lebens werden. Wenn aber Dichtung nur noch in
ihren eigenen Schöpfungen Sinnvolles vorzustellen vermag und nicht mehr dem
verborgenen Sinn nachgeht, der in der vorgegebenen Wirklichkeit, einschließlich
des Menschen, liegt, fehlt es an jener Weisheit, die wir an den Klassikern
bewundern.
Wenden wir uns nun der erzieherisch
bildenden und moralischen Seite des Schauspieles zu, so zeigt sie sich bei
Schiller nicht als der Zweck des Schauspieles, sondern als seine Wirkung. Wegen
dieser wird die Schauspielkunst in Staat oder Gesellschaft als Bildungsgut in
den Erziehungseinrichtungen verwendet, in denen die moralische Bildung Zweck
sein muß. Theater-Literatur als Bildungsgut wird damit zu Recht moralischer Beurteilung
unterzogen.
Nach Schiller, wie auch nach
traditioneller Auffassung, geht vom Theater eine erzieherische Wirkung sowohl
auf den Verstand aus, daß er Menschenkenntnis und praktische Weisheit lerne,
als auch auf das Gefühlsleben, um es zu formen und zu veredeln, wie dies
paradigmatisch im Mitleiden mit den Leidenden geschieht. Aristoteles spricht
von der Läuterung der Affekte. Daß die Formung der Gefühle oder Affekte eine
moralische Seite hat, leuchtet ein; denn schon nach aristotelischer Definition
sind die Tugenden mittlere Haltungen gut geformter Affekte (griech. pathos,
latein. passio, affectus, deutsch: Leidenschaft), wie die
praktische Klugheit sie leitet und formt.
Freilich, was Schiller, ebenso auch
Goethe, wie selbstverständlich voraussetzt, daß nämlich der Dichter außer dem
Talent schöpferischer Phantasie auch Weisheit besitze, erweist sich beim Blick
auf gegenwärtige Theater-Produktion keineswegs mehr als gegebene Voraussetzung.
Und wenn sie, wie bei Schiller, eine Nähe zur religiösen Weisheit haben soll,
erscheint sie heute noch seltener.
In der
literarischen Kunstproduktion unserer Tage fehlt weitgehend die Nähe zur
Religion. (Die bewundernswerten Ausnahmen, die wir bei Werner Bergengruen,
Gertrud v. le Fort u.a. finden, gehören schon fast der Vergangenheit an.) In
dieser Situation äußert sich auch die Katholische Kirche zurückhaltend: Sie
ermutigt die Künstler zu ihrem Schaffen als Kulturbeitrag unserer Zeit, hält
aber an dem hohen Maßstab fest, den uns die Tradition des christlichen Glaubens
setzt. Man vergleiche die Abschnitte im Vaticanum II, Const. De s. liturgia (cap. VII, über die Sakrale Kunst), Gaudium et spes
(sect. III, Nr. 61 ff.), Messaggi del concilio all'umanità (1965, Agli
artisti), ferner ein Sendschreiben von Papst Johannes Paul II an die Künstler.
Einschlägig für unser Thema ist auch ein Beitrag aus jüngster Zeit des
Würzburger Bischofs Friedhelm Hofmann in: Die Tagespost, 26.2.05, S. 15
("Keine Bühne für ästhetische Atelierkriege").
Jedenfalls kann vom Theater nur dann eine
moralische Wirkung ausgehen, die zum Abscheu gegen das Laster und zur
Begeisterung für die Tugend führt, wenn im Dichter zum schöpferischen Talent
auch die Tugend der Weisheit hinzukommt, die alle anderen Tugenden voraussetzt,
mit einer gelebten Erfahrung ihrer Gutheit. Schiller deutet dies in der
Einleitung durch den Stolz und die Selbstschätzung des Geistes an, der im
Besitz seiner selbst und in der Freude an seiner Existenz und Tätigkeit lebt.
Abschließend noch eine Bemerkung zu der
anthropologischen und psychologischen Grundlage in Schillers Vortrag. Schon in
der Einleitung erwähnt er das zweifache Bedürfnis des Menschen, das animalisch
triebhafte und das geistige, wie dies auch eine breite Philosophie-Tradition im
Abendland lehrte, wonach die Menschennatur eine komplexe ist, aus Leib und
Seele bestehende. Dabei weist die Seele wieder ein sinnliches und ein geistiges
Prinzip auf, mit dem Vorrang des letzteren. Dem muß das Schauspiel Rechnung
tragen, das sich ja an den ganzen Menschen wenden will, nicht nur an den
Verstand.
Hinzu kommt eine psychologische Kenntnis,
die der Dichter besitzen muß, und von der auch Schiller in seinen Dramen selbst
Beweis gibt. Ebenso im vorliegenden Vortrag; denn das Schauspiel hat ja zum
Gegenstand das Menschenleben und übt deshalb auf das Publikum eine starke
Wirkung aus, weil ihm ein Spiegel des eigenen Lebens vorgehalten wird, der die "schlummernde
Natur" beleuchtet, jenes Gebiet des Herzens, der Gefühle und
Leidenschaften, die dem Geist nur halb bewußt und schwer erschließbar sind. Und
doch hängt von ihnen oft das ganze Schicksal des Menschen ab, sein Wohl und
Wehe, sein Glück und Unglück. Diesen unerschöpflichen Dramenstoff zu bearbeiten
bedarf der Dichter psychologischer Kenntnis.
Es läßt
sich freilich bei gegenwärtigen Schauspielen und Romanen feststellen, daß sie
gewissen Theorien einer experimentellen Tiefenpsychologie folgen (z.B. Krankheits-Protokolle
verwenden) und damit faktisch viel zu ihrer Verbreitung beigetragen haben,
während in Wahrheit für die Dichtkunst jene Psychologie des Herzens gefordert
wäre, welche die Menschen sich ohne Wissenschaft erwerben können, mit weisem
Menschenverstand, wie ihn die Eltern gegenüber den Kindern, die Lehrer
gegenüber den Schülern bewähren, und allgemein die Menschen im gegenseitigen
alltäglichen Verkehr.
Auf ein psychologisches Problem bei uns
Zuschauern geht Schiller besonders ein, nämlich wie wir am Betrachten des
leidenden Helden auf der Bühne ein Vergnügen finden können. Schiller
kennzeichnet solches Betrachten als einen Zustand "wollüstigen
Entsetzens" (723). Wie kann sich zu dem Entsetzen, angesichts einer Untat
oder eines leidvollen Unglücks, eine Lust einstellen, mehr noch: eine gewollte
Lust? Denn nach allgemeinem
Sprachgebrauch ist die Wollust böse, sündhaft, weil man nicht nur etwas Böses
will, sondern auch noch die dabei sich einstellende Lust.
Aus dem Kontext des Vortrages, dessen
Thema die Bildung der Gefühle und Affekte ist, geht hervor, daß die Lust oder
das Vergnügen in uns Zuschauern sich nicht auf das Unglück oder Leiden bezieht,
das ja ein echtes Entsetzen in uns auslöst, wie wir es gegenüber leidenden
Menschen in der wirklichen Welt empfinden würden. Vielmehr bezieht sich das
Vergnügen auf die Form, wie der Dichter es verstand, das Leid in der
künstlichen Welt darzustellen, so daß es in uns Mitleid oder sogar Entsetzen
weckt. Es ist also ein ästhetisches Vergnügen, das sich mit dem echten
Mitleiden verbindet, wie ja auch im Schauspiel selbst mit dem Ernst des
Gegenstandes die Form des Spieles verbunden ist. Schiller ist später in einer
eigenen Schrift[6] auf das psychologische Phänomen
eingegangen und auf seine Erklärung in der dem Drama einwohnenden, merkwürdigen
Verbindung von Ernst und Spiel, von moralischer Bildung der Seele und
Vergnügen.
[1] Die an Schiller
ungerecht geübte Kritik des Moralisierens stellt gut Friedrich Burschell klar
in seiner Monographie: Friedrich Schiller in Selbstzeugnissen und
Bilddokumenten, Hamburg (rowohlts monographien) 1975, S. 56, aus der ich
hier auch den wichtigen Hinweis auf Lessing erwähne.
[2] Zitiert wird hier und im
folgenden nach der Ausgabe: Friedrich Schiller, Werke in drei Bänden,
hrsg. von Herbert G. Göpfert, München (Hanser), 1976.
[3] Dieser Aspekt der
Menschenbildung hat auch Lessing und den ihm hierin verwandten Goldoni in ihrer
Idee der Theater-Reform geleitet. Vgl. meinen Aufsatz: Zur Schauspielkunst
bei Goldoni im Vergleich zu Lessing, in: Lessing und Europa, in: 41.
Kamenzer Lessing-Tage, Kamenz 2002, 83-95.
[4] Dasselbe gilt übrigen
auch schon für Platon, der ebenfalls zu Unrecht des Moralismus beschuldigt
wird, weil er die Dichter seiner Zeit aus seinem Idealstaat verbannt hat. Der Grund
ist nicht der, daß sie schlechte Handlungen auf die Bühne bringen, sondern weil
sie diese reizvoll und anziehend darstellen, wodurch sie, wie Platon, Resp.
X, bemerkt, die Seelen der Zusachauer verderben. Vgl. meine Studie: Erörterungen zu Platons Kritik an der
Dichtkunst, in: Anodos (Festschr. H. Kuhn), Weinheim 1989, 297-314.
[5] Auf diesen
kunsttheoretisch interessanten Unterschied macht Kurt Rothmann (Kleine
Geschichte der deutschen Literatur, Stuttgart [Reclam] 171997,
S. 119) aufmerksam und verweist auf den Geburtstagsbrief Schillers an Goethe
von 1794. Darin "hatte Schiller Goethes intuitiven dichterischen Zugriff
von dem eigenen spekulativen Zugriff unterschieden". Der Kontext bezieht
sich auf die lyrische Dichtung, doch läßt sich der Gesichtspunkt auch auf das
Schauspiel anwenden.
[6] Siehe seine Schrift: Über
den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, von 1792.