Prof. Horst Seidl

Zu Heideggers Fehlinterpretation antiker Texte  Antwort auf eine Rezension

 

In seiner interessanten Rezension dreier Publikationen zu Heidegger im Internet (literaturkritik.de, vom 3.12.2006) geht Stefan Degenkolbe auch auf meine Broschüre ein: Heideggers Fehlinterpretation antiker Texte (Verlag nova&vetera, Bonn 2005). Zuvor hat er das Heidegger-Bändchen von Manfred Geier (rororo-monographien) besprochen und, von diesem angeregt, seine Rezension betitelt: "Heidegger für alle". Er stellt jedoch bei Geier Schwierigkeiten mit Heideggers Begrifflichkeit fest, wie sie auftreten, wenn zu wenig beachtet wird, dass Heidegger Begriffe der Alltagssprache aufnimmt und entwickelt, "aber dabei in ihrer Bedeutung so stark verfremdet, dass sie nicht mehr ohne weiteres verständlich sind. Wenn Heidegger vom 'Sein' oder vom 'Dasein' spricht, so meint er damit nichts, das dem, was man gemeinhin darunter verstehen mag, auch nur ähnlich ist." Aus der Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Carnap könne man zwar "eine Ahnung von dem Gehalt der Streitpunkte" haben. Aber es bleibe auch nach Geiers Darlegungen noch "die Frage nach der Sachhaltigkeit der Heidegger'schen Philosophie" zu stellen. Doch frage ich mich: Wenn zu diesem Denker dreißig Jahre nach seinem Tod Spezialisten immer noch hinsichtlich der Sachhaltigkeit seiner Philosophie uneins sind, ob es um einen "Heidegger für alle" gehen kann.

Was Heideggers Unverständlichkeit betrifft, so liegt sie meines Erachtens nicht daran, dass er Begriffe der Alltagssprache durch eigene Bedeutungen verfremdet, sondern daran, dass er philosophische Begriffe der Tradition wie Alltagsbegriffe aufgreift und mit "existentiellen" Bedeutungen zu füllen versucht, die diese Begriffe jedoch verweigern, was zu ihrer Unverständlichkeit führt. Das Verbalsubstantiv "das Sein", griech. "to einai", latein. "ipsum esse", war in Antike, Mittelalter und Neuzeit in keiner der europäischen Sprachen ein Alltagsbegriff  ebenso wenig das Partizip "das Seiende", griech. "to on", latein. "ens" , sondern seit Parmenides, Platon und Aristoteles, sowie in den an sie anschließenden Traditionen, ein philosophischer Ausdruck, der aus einer erkenntnistheoretischen Reflexion hervorgegangen ist, wonach das Sein / Dasein der Dinge  und ihre Zusammenfassung als "Seiendes"  für alle erwerbbaren Erfahrungen, Erkenntnisse und Erlebnisse schon vorausgesetzt und uns evident bewusst ist  was Heidegger ignoriert.

Ebenso entgeht ihm der Erkenntnisfortschritt der traditionellen Metaphysik, der vom verursachten Dasein zu ihren immanenten Wesensursachen, sowie zu ihrer ersten transzendenten Seinsursache führt, dank der analogen Seinsbedeutungen. So steht bei Thomas v. Aquin das "ipsum esse subsistens", in sehr präziser Bedeutung, als Wesenheit der ersten Seinsursache. Heidegger greift den scholastischen Begriff "das Sein selbst" auf, losgelöst von seinem metaphysisch ursächlichem Zusammenhang, und befragt ihn wie einen inhaltsleeren Alltagsbegriff  linguistisch und geschichtlich hermeneutisch  nach seiner Bedeutung: Was meinen wir, wenn wir das Wort Sein aussprechen? Und als hätte das Abendland diese Frage zu stellen vergessen, sucht er es dann mit existentiellen Erlebnissen zu füllen, die phänomenologisch analysiert und beschrieben werden. Dabei erhält dann "das Sein" Bedeutungen, von denen selbst Heidegger-Kenner nur eine "Ahnung" haben können.

Heidegger ist bei der Auslegung antiker Texte nicht von der Intention der antiken Autoren ausgegangen, sondern wollte in sie seine eigene Intention existentiellen Erlebens hineinlegen. Erklärtermaßen beabsichtigte er, die traditionelle Ontologie / Metaphysik zu destruieren, um sie in seine neue existentielle Fundamentalontologie zu verwinden. Seine Methode ist die der modernen Hermeneutik, welche die überlieferten Texte wie geschichtliche Zeugnisse vergangener Zeiten betrachtet, als würden sie uns nicht mehr ansprechen, wenn sie nicht der Hermeneutiker für unsere Zeit neu "übersetzte" und wieder zum Leben erweckte. Dagegen ist jedoch zu sagen, dass die philosophischen Texte der Antike nicht geschichtlichen Inhaltes sind, der hermeneutisch immer wieder anders ausgelegt werden könnte. Wäre es so, dann gäbe es keinen Gegensatz zwischen "wahrer" und "falscher" Auslegung, da hier jede Auslegung ihre geschichtlich relative, perspektivische Berechtigung hat. Stattdessen verhält es sich anders; denn die philosophischen Texte der Antike bieten teilweise übergeschichtliche, immer wahre Erkenntnisse, so dass die Interpretation ihren theoretischen Erkenntnissen entsprechen muss, wie dies in der traditionellen geschehen ist.

Im Übrigen gehen die antiken Autoren wie wir vom vorphilosophischen natürlichen Realismus aus, der uns ihre Texte unmittelbar zugänglich macht, so dass man passend von einem "Platon für alle" oder einem "Aristoteles für alle" sprechen könnte.

Meine Broschüre folgt der traditionellen Interpretation der antiken Texte und übt an ihrer geschichtlich hermeneutischen Auslegung bei Heidegger Kritik, weil sie der Intention der antiken Autoren zuwiderläuft. Insofern geht diese Kritik über die bloße Korrektur inhaltlicher Fehler (auch Übersetzungsfehler) in Heideggers Auslegung antiker Texte weit hinaus. Wer Heideggers hermeneutischer Richtung folgt, kann dies nicht anerkennen. Übrigens ist der Rezensent von meinem Hinweis im Vorwort missleitet, dass es mir "gar nicht zuerst um eine Interpretation Heideggers gehe, sondern um eine Verteidigung der traditionellen Interpretation antiker Philosophie gegen Heidegger." Er vermisst bei mir, dass ich meine Position gegen Heidegger nicht "im Umgang mit den Griechen festmachte. So aber bleibt ein Text, der kategorisch eine 'richtige' gegen eine 'falsche' Position stellt, mehr nicht." Hierzu darf ich klarstellen, dass mein Vorwort nur vom Verzicht auf einen Beitrag zur Heidegger-Forschung sprach, die großenteils mit der Aufhellung der denkerischen Entwicklung vom frühen zum späten Heidegger befasst ist und seinen eigenen "Denkweg" in Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössischen Denkern zu verfolgen sucht. Meine Broschüre gelangte durchaus zu einer Beurteilung von Heideggers Position, aber beschränkt auf den Zeitraum jener Schriften, mit deren Auslegung antiker Texte ich mich beschäftigte, ohne sie in das Gesamtwerk Heideggers einzuordnen; denn die hiermit verbundenen Fragen überlasse ich der speziellen Heidegger-Forschung.

Zur Relativierung der "wahren" traditionellen Interpretation antiker Texte, der gegenüber die hermeneutische Auslegung als kategorisch "falsch" erschiene, möchte ich bemerken, dass es nicht um die Hermeneutik historischer Texte und Denkmäler aus der Vergangenheit geht, die sie als Kulturwerke des Menschen auslegt, sondern um jene Hermeneutik, die als eigene Philosophierichtung auftritt und als solche durchaus diskussionswürdig ist. Die philosophischen Texte von Platon und Aristoteles sind nicht nur historische Denkmäler, die geschichtlich zu "verstehen" sind, sondern vielmehr Abhandlungen mit wahren Einsichten, die zu "erkennen" sind. Meine Broschüre behauptet nicht kategorisch diese Einsichten als wahr, sondern weist sie mitphilosophierend auf. Dabei berücksichtige ich auch die traditionelle Interpretation, wie sie in antiken und mittelalterlichen Kommentatoren vorliegt, auf die jedoch Heidegger nicht näher eingeht. Im Übrigen habe ich meine Kritik an Heideggers Position gerade "am Umgang mit den Griechen festgemacht". Während nämlich die traditionelle Interpretation und meine eigene, die bei ihr anschließt, sich auf die Intentionen der antiken Autoren einlassen, geht Heideggers Auslegung an ihnen vorbei oder tut ihnen sogar erklärtermaßen Gewalt an.

Es ist bemerkenswert, wie Denker der Gegenwart im Vergleich zu antiken Autoren ihre Position zu legitimieren versuchen. So verfolgt auch Heidegger eine Doppelstrategie: einerseits zu zeigen, dass sein Denken alle Philosophie des Abendlandes überbietet, andererseits aber doch nachzuweisen, dass sein Denken das entbirgt, was schon in antiken Denkern verborgenerweise angelegt war, um seine eigene Position zu rechtfertigen. Insofern dürfte der Nachweis, dass seine Auslegung antiker Autoren gänzlich ihren Intentionen zuwiderläuft, ein kritisches Licht auf sein eigenes Denken werfen. Darauf hat auch Johannes Seibel in einer Rezension meiner Broschüre hingewiesen (Die Tagespost, 17. Juni 2006, S. 13).

Abschließend gesehen, geht es nicht um zwei oder mehr verschiedene, hermeneutische Auslegungsmöglichkeiten antiker Texte, sondern um die in ihnen liegenden wahren Erkenntnisse. Die traditionelle Interpretation läst sich auf diese ein. Sie betreffen wahre Einsichten in die Welt, den Menschen und Gott. Ob sie von einer Interpretation wahr oder falsch erfasst werden, kann dann für uns vielleicht sogar "existentiell" wichtig werden.