Blumen und Bienen

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Heute ist ein wichtiger Tag im Palais Jarjayes. In allen Zimmern und Fluren spürt man die Aufregung über ein großes Ereignis. Heute fliegt das letzte Vögelchen aus dem Nest.

Eine ihrer Schwestern heiratet heute, denkt Ginèvre und schließt die Klammern der Ohrringe. Sie sind so schwer, dass sie ihr die Ohrläppchen herunterziehen. Und das Korsett schnürt sie ein und drückt ihre Brüste gnadenlos aus dem Ausschnitt. Wer schön sein will, muss leiden: Das hat sie immer gesagt, aber eigentlich nie gedacht. Jetzt, wo sie achtzehn ist, ist ihre Taille nicht mehr wie früher. Sie hat drei Schichten und sechs Zentimeter zugelegt. Als sie heiratete, konnte man sie mit den Händen umfassen.

Ab heute wird das auch das Schicksal von Marie Victoire sein.

Die einzige, die sich darum nie Sorgen machen muss, wird die kleine Oscar sein, denkt sie, während sie mit einer bitteren Grimasse die Zofe aus dem Zimmer schickt und sich Puder aufs Gesicht stäubt.

Nein… sie nicht.

Sie nicht, die noch zu klein ist, um zu wissen, was das alles bedeutet, reiten geht und dabei schreit wie wildgeworden, gefährlich das Schwert schwingt und mit der Unvernunft ihres Alters jeden herausfordert, der sich ihr in den Weg stellt.

Nein… sie nicht.

Ob das wohl gut oder schlecht ist? Das weiß Ginèvre nicht. Sie weiß nur, dass bisher sie und ihre Schwestern geschwiegen und das ganze als eine Schnapsidee ihres Vaters erlebt haben. Ihre Mutter hatte einmal den General angeschrieen: „Was wirst du tun, François, wenn sie von selbst bemerkt, dass sie eine Frau ist? Was wirst du tun, wenn ein Mann sie eines Tages als Frau begehrt?”

Sie und die anderen Schwestern waren im Zimmer nebenan. Die Stimme des Generals gab keine Antwort. Statt dessen hörte man das unverwechselbare Geräusch einer Ohrfeige, ähnlich denen, die die kleine Oscar so leicht einfing, wenn sie widersprach, oder wenn sie ein nur andeutungsweise weibliches Gebaren an den Tag legte. Bei diesem Geräusch hatten alle fünf Schwestern ihre Köpfe über die Stickerei gebeugt, und sie konnte sich noch erinnern, sich in den Finger gestochen zu haben.

Heute steht sie vor dem Spiegel, Mutter von drei Söhnen und Ehefrau eines Vierzigjährigen, seit sie dreizehn war, und fragt sich, was wohl die Antwort auf diese Frage ist, die ihre Mutter acht Jahre zuvor ihrem Vater gestellt hatte: Was bedeutet es, als Frau begehrt zu werden? Wusste ihre Mutter das? Hatte dieser Mann es ihr jemals zu verstehen gegeben, der Mann, der sie an jenem Abend ohne ein weiteres Wort geohrfeigt hatte? Würde es wirklich nur Oscar sein, die es nie wissen würde?

Während sie den Finger von ihrem weißgepuderten Gesicht entfernt, nachdem sie das samtene Muttermal neben die Oberlippe geheftet und sich dabei gefragt hat, ob dieser schwarze Fleck wirklich nötig ist, hört sie ihre Zimmertür nachlässig aufgehen, und ein zögernder Schritt gleitet zwischen den vergoldeten Möbeln über die Teppiche.

„Oscar!”

„Hallo.”

„Kleines… was machst du hier? Siehst du aber hübsch aus! Das dunkelgrüne Gewand betont deine Hautfarbe!” lobt Ginèvre sie mit einem Lächeln, während sie im Spiegel das blonde Mädchen ansieht, das schlechtgelaunt ins Zimmer kommt. Sie ist ungefähr zehn Jahre alt und ihr Gesichtsausdruck ist zu streng und hart für ihr Alter. Sie trägt kein Kleid aus Spitzen und Volants mit Püffen und Schleppen wie die anderen Mädchen ihres Alters, die im Park an den Röcken ihrer Mütter kleben. Sie ist angezogen wie ein Junge, und von ihrer Taille hängt über die Hüfte ein kleines Schwert.

Absurd! denkt Ginèvre, die diese Gerätschaften nicht ausstehen kann, und dreht sich in der Krinoline um sich selbst.

„Hm…” antwortet ihr die kleine Oscar mit verschlossenem Gesicht. Ginèvre vergisst jedes Mal, dass ihre Schwester solche Anmerkungen nicht interessieren. Es ist ihr egal, was sie für die Hochzeit der x-ten Schwester anhat. Eigentlich ist es auch Ginèvre egal, aber sie begreift, dass sie nur frivole Unterhaltungsthemen kennt. Manchmal hat sie das Gefühl, als hätte das, was ihre Stimme in den eleganten Salons affektiert von sich gibt, nicht den Sinn, den sie ihm geben möchte. So kann man nicht mit einem kleinen Mädchen sprechen.

Und außerdem ist das ein seltsames kleines Mädchen. Gewohnt, dass man auf sie zeigt, dass man sie anstarrt. Gewohnt, den Leuten mit Verachtung zu begegnen, die ihr aus Neugierde zu nahe kommen. Dabei wird sie in einigen Jahren die schönste von allen sein, denkt Ginèvre und betrachtet ihr ovales Gesichtchen. Und trotzdem ist der Tag nicht fern, an dem der General sie zwingen wird, ihre Brüste in eine schwere Uniformjacke zu zwängen anstatt in ein Korsett, das einem die Luft zum Atmen wegnimmt, so dass man in Ohnmacht fällt, sobald sich ein Blättchen am Baum regt.

Väter und Ehemänner stecken die Frauen in Korsetts, damit sie sich nicht wehren können, hatte ihr die kleine Oscar eines Tages mit der für sie typischen Selbstsicherheit gesagt, ohne sie anzusehen. Und sie hatte nichts gesagt, weil sie gedacht hatte, es ist wahr, und ihre kleine Schwester hatte ihr Angst eingejagt.

„Kann ich hier bei dir bleiben, während Nanny Marie Victorie fertig aufschirrt?” fragt sie die Kleine, setzt sich auf einen Sessel und legt ihre weißen, schmalen Hände auf die geschnitzten Lehnen, ohne den Blick von ihr zu wenden.

„Ja, Schatz… aber Oscar!… Bist du unhöflich! Marie Victoire ist nicht aufgeschirrt… Sie ist deine Schwester! Sie ist doch nicht eines deiner Pferde!”

„Ich langweile mich drüben… Mutter weint, und Marie Victoire stellt sich an. Sie sagt, dass das Kleid aussieht wie eine Sahnetorte und zu eng ist, und dass sie bald erstickt.”

Ginèvre seufzt und setzt sich vor ihre Schwester. Sie betrachtet sie im dunklen Grün ihrer Männerkleidung, wie sie gerade und mit gehobenem Kinn auf dem Sessel sitzt, wie ein König. Sie denkt daran, dass sie sie gern hat.

Das Licht fällt auf das Gesicht der Kleinen; ihre rechte Wange ist gerötet.

„Langweilst du dich?… Was ist mit deinem Gesicht passiert, du kleines Biest?” fragt sie und seufzt dabei, aber nicht sehr, denn Oscar hat immer überall Kratzer und blaue Flecke, und sie zeigt sie vor wie Medaillen.

„Marie Victoire ist wütend geworden und hat mir eine runtergehauen. Sie ist immer noch hysterisch.”

„Was hast du denn mit ihr gemacht?”

„Sie wollte einen Schönheitsfleck haben. Ich habe einen Augenbrauenstift genommen und ihr einen auf die Stirn gemalt, und da ist sie durchgedreht. Dann wollte Nanny, dass ich mich auch wie ein dümmliches Weibchen anziehe, und da bin ich zu dir gekommen.”

Ginèvre findet all das nur vorübergehend komisch. Im Grunde genommen ist es entsetzlich traurig.

„Oh!… Das freut mich. Wo ist denn André? Warum ist er nicht bei dir?” fragt Ginèvre und überlegt sich, dass da etwas nicht stimmt, wenn ihre kleine Schwester allein in ihr Zimmer kommt, wo sie doch Schminktiegel und Seidenroben meidet wie die Pest.

„André ist ein blöder Dummkopf und ich rede seit gestern nicht mehr mit ihm.”

„Oscar… was ist los mit dir? Mit allen fängst du Streit an… sogar mit André!”

„Er ist blöd,” wiederholt die Kleine, damit es bei der großen Schwester ankommt; die kann aber nicht begreifen, was sie hört.

„Jetzt komm. André ist doch ein netter Junge…”

Ehrlich gesagt, kam ihr André nie wie ein Kind vor. Seitdem er nach Palais Jarjayes kam, um sich um ihre unselige Schwester zu kümmern, hat sie in ihm einen ernsten, erwachsenen Gesichtsausdruck gesehen, wenn auch nicht vergleichbar mit dem reizbaren Ernst der kleinen Oscar. Auch wenn dieser mit den Jahren etwas nachgelassen hat, während sie zusammen mit ihrem kleinen Freund durch die Wälder und die leeren Zimmer des Hauses streifte. Er war ernst auf eine Art, die weise wirkte; weiser als mancher Erwachsene. Selbstbeherrscht und freundlich, sicher in dem, was er sagt und tut.

Nein… denkt Ginèvre, er ist nicht so nachgiebig gegen die Launen ihrer Schwester, wie es scheint, er ist nur geduldig. Vielleicht, weil er der Sohn armer Eltern ist und sie sterben sehen musste, und da ist es, als wüsste er, dass man manche Dinge nicht ändern kann…

Aber irgendwie jagt es ihr einen Schauer über den Rücken, die beiden zusammen zu sehen: Zwei große Einsamkeiten in zwei kleinen Körpern, wie sie zwischen den Wänden des Palais trotten und mit Pistolen und Schwertern umgehen, seit sie alt genug waren, um sie zu halten. Es ist etwas, das ihr das Herz zusammenzieht, denn es passt gar nicht zu den Rollen, die das Leben ihnen normalerweise zugedacht hätte: Frauen sollten sich die Finger beim Sticken durchlöchern und ihre kalten Ehemänner im Bett empfangen, um so viele männliche Kinder auszubrüten wie möglich; Diener sollten sich im Gestank nach Dung in den Ställen die Hände aufarbeiten und die gemeinen Aussprüche und die Verachtung ihrer Herren ertragen.

„Was hat er dir denn getan?” fragt Ginèvre, die Oscars Zorn gegen diesen Jungen, der ihr wie ein Schatten folgt, nicht sehr ernst nimmt.

„Er hat schlechte Dinge zu mir gesagt… jetzt bin ich böse und spreche nicht mehr mit ihm,” sagt die Kleine und senkt den Kopf, um ihre Demütigung zu verbergen.

Ginèvre weiß nicht, was sie sagen soll, aber sie möchte doch etwas sagen. Es ist nicht einfach, mit dieser Schwester zu sprechen, aber irgendwie hat sie das Bedürfnis, sich dieser kleinen Einsamkeit zu nähern, die jetzt schlecht über ihre andere Hälfte spricht.

Eine Weile ist es still. Der kleine blonde Kopf scheint nachzudenken, er arbeitet eine Frage aus.

„Ginèvre… ich muss dich was fragen. Aber du darfst nie jemandem sagen, dass ich dich danach gefragt habe… nie! Hörst du? Hilfst du mir?”

„Kleines…” sagt Ginèvre, die nicht glauben kann, was sie hört. „Du kannst mich alles fragen, was du willst! Ich werde es nie jemandem sagen. Was ist passiert? Erzähl.”

Irgend etwas Seltsames geschieht, aber etwas, das geschehen musste. Sie war nicht darauf vorbereitet, aber sie braucht es, um dieser geliebten, fernen Schwester näher zu kommen. Und sie hat den Verdacht, dass sie es auch braucht, um etwas über sich selbst zu verstehen.

„André hat mich wütend gemacht… Er hat gesagt, dass ich kein Junge bin, und da habe ich ihm gesagt, dass das nicht wahr ist. Und da hat er gesagt, das ist wohl war, weil, wenn wir in die Wälder gehen und pinkeln müssen, dann bleibt er dabei stehen, und ich muss mir immer einen abgeschiedenen Platz suchen.”

Ginèvre schluckt. In solchen Gesprächen ist sie nicht gut.

„Und deswegen bist du wütend geworden?”

„Ich habe ihm gesagt, dass ich als Junge viel besser bin als er, auch wenn ich nicht im Stehen pinkeln kann, weil ich ihm beim Fechten immer schlage. Da hat er gesagt, dass liegt daran, dass ich ein Mädchen bin und schneller wegkomme. Da war ich wirklich sauer und habe ihn in die Hand gebissen, und da ist er auch sauer geworden und hat gesagt, in ein paar Jahren, wenn es Sommer und furchtbar heiß ist, dann kann ich mir nicht mehr das Hemd ausziehen, denn dann werde ich diese Schwellungen haben, die du hast, unsere Mutter und die anderen Mädchen auch, aber dass meine schrecklich hässlich sein werden, weil ich mich für einen Jungen halte und böse bin…”

„O Gott, Oscar…” murmelt Ginèvre. Sie ist nicht mehr so verlegen wie am Anfang. Das, was die Frau Mutter befürchtete, geschieht schon, und sie ist Zeugin davon. Ihr diesen Jungen an die Seite zu stellen wird nicht ausreichen, um sie davon zu überzeugen, ein Junge zu sein. Sie wird vielleicht, so wie jetzt, jahrelang versuchen, sich davon zu überzeugen, dass das wahr ist, was ihr der Vater vorgeschrieben hat. Aber es ist schon ein Samenkorn in ihre Gedanken gefallen, aus dem anders geboren werden wird. Und da ist noch etwas, das sie kaum glauben kann, denn sie ahnt, wenn ihre Schwester mit ihren Fragen dorthin ankommt, wo sie will, wird sie ihr trotz ihrer drei Schwangerschaften nicht viel darüber sagen können.

„Erzähl weiter… was hat er dir noch gesagt?”

Oscar schweigt. Vielleicht mag sie nicht mehr sprechen. Aber dann spielt sie mit den Knöpfen an ihrer Jacke, und fragt weiter.

„Ginèvre… aber dass André anders ist als ich, das weiß ich. Ich habe ihn gesehen… Ich weiß, dass er sich nie hinsetzt, wenn er pinkeln muss… warum?”

Jetzt bleibt Ginèvre wirklich die Sprache weg. Sie fühlt auch ein Schweißbächlein, das der Perücke entkommt und ihr über den Rücken rinnt, und dort stehen bleibt, wo ihr das Korsett den Atem nimmt. Wenn sie jetzt in Ohnmacht fiele, wäre sie nicht dazu gezwungen, dieses Gespräch zu Ende zu führen, aber das Korsett tut ihr den Gefallen nicht.

Ja, warum? Was soll man antworten? Sie hat immer gedacht, dass Männer so gebaut seien, um dich nachts aufzuwecken und zu quälen. Weil aus diesen nächtlichen Qualen Kinder geboren werden müssen, möglichst Jungen. Mädchen bedeuten nur überflüssige Ausgaben. Und manchmal, so hat sie gehört, wenn in armen Familien Mädchen geboren werden, schafft die Hebamme sie aus der Welt mit geheimen Mitteln, die nur sie kennt, und hinterher sagt man, dass die Kleine schwach war und deswegen bald gestorben ist. Die Adeligen lassen die Mädchen am Leben und überlegen sich, wie sie sie am besten loswerden, in der Hoffnung, dass sie nicht zu hässlich sind, damit man über die Mitgift verhandeln kann.

Warum hat die Natur nur entschieden, dass es etwas so grässliches geben soll; so scheußlich, dass man an etwas anderes denken muss, zum Beispiel an irgendeinen Roman, oder an den letzten Klatsch aus Versailles, bis der Ehemann fertig ist. Sie hat ihren Mann nie deutlich genug gesehen, um zu wissen, wie er gebaut ist, wie weiß nur, was er nachts von ihr will. Und sie begreift nicht, was notwendig ist, um das zu empfinden, was in den Romanen Liebe genannt wird und die Menschen flüstern lässt: „Gott, nimm alles von mir, aber lass mir die Liebe, auch wenn ich darunter leide!” Warum legen sie soviel Wert darauf, zu leiden?

Sie versucht, ihre Gedanken zu ordnen, und sich nicht beunruhigt zu zeigen. Sie wird der kleinen Oscar das gleiche erzählen, was ihr Nanny, als Abgeordnete ihrer Eltern, Blut und Wasser schwitzend, in der Nacht erzählte, bevor sie ihren vierzigjährigen Gatten heiratete. Nur Mut: In ein paar Jahren wird sie das auch bei ihren eigenen Kindern tun müssen.

„Hm… sieh mal… Oscar… die Sache ist die, dass es Bienen gibt und Blumen…” Eine lange Pause, sie muss schlucken. Aber wie soll man schlucken, wenn einem die Zunge am Gaumen klebt?

„Die Bienen… die Bienen fliegen…” fährt Ginèvre fort.

„Ja, ich weiß, im Park sind viele davon…” antwortet Oscar auf diese schlüssige Aussage.

Und Ginèvre begreift, dass ihre Schwester nichts begreifen wird, so wie sie an jenem Abend nichts begriff, um sich dann in der folgenden Nacht nackt und voller Schmerzen, mit Wunden zwischen den Beinen, in den blutbefleckten Laken wiederzufinden. Man muss sich klarer ausdrücken.

„Nun… Schatz… es ist nicht so wichtig, dass sie fliegen… die Bienen setzen sich auf die Blumen… um… um… und darum…”

Sagen wir’s doch mal ehrlich: Was haben die Bienen damit zu tun? Was zum Teufel tun die Bienen eigentlich auf den Blumen? Das ist ihr trotz der drei Schwangerschaften nicht ganz klar. Was haben die schönen Bienen und die herrlichen Blumen mit dem zu tun, was man des nachts ertragen muss. Und was meinte die Mutter nur, wenn sie darüber sprach, dass man als Frau begehrt wird? Und ist es möglich, dass es schon jemanden gibt, der ein Mädchen als Frau begehrt, deren Schicksal es ist, als Junge aufzuwachsen?

Nein, das vielleicht nicht. Die Phantasie ist ihr durchgegangen. André weiß ganz einfach, was Oscar beunruhigt, und heute hat’s ihm gereicht und er hat es ihr gesagt, um ihr heimzuzahlen, dass sie ihn wieder einmal tyrannisiert hat.

„Also, Oscar… die Bienen fliegen… und die Frauen bekommen Kinder, weil sie anders gemacht sind als die Männer… ich glaube, du hast das schon selbst gesehen, darum gehe ich darauf jetzt nicht ein,” kürzt sie ihren Versuch ab, aufschlussreicher zu sein, und schämt sich sehr.

Oscar sieht sie von ihrem Sessel aus fragend an.

„Nein… Ginèvre, das habe ich nicht verstanden.”

Ginèvre fragt sich, welche Sünde sie begangen hat, dass sie jetzt so dafür büßen muss. Jetzt gibt es weder ein Zurück mehr, noch kann man sich weigern, zu erklären.

„Weißt du, wie das bei Schlüssel und Schlüsselloch ist?” sprudelt sie hervor, um dieses Gespräch zu beenden, das schon zu lange dauert und sie ins Schwitzen bringt.

Der Kleinen bleibt ein wenig der Mund offen und die nächste Frage lauert schon, von ihrer Schwester schnell zum Schweigen gebracht.

„Oscar… Oscar… das reicht… wenn du ein bisschen darüber nachdenkst, verstehst du das schon!”

Oscar macht den Mund wieder zu, sagt aber nichts.

„Hör mal… wo ist denn André jetzt?”

Sie stellt diese Frage und fragt sich gleichzeitig, ob es gut ist, dass dieser Junge, der denkt wie ein Erwachsener, die ganze Zeit bei ihrer Schwester verbringt. Und sie fragt sich auch, ob es richtig ist, ihn gerade jetzt zu erwähnen, nachdem sie durch den friedlichen und traditionellen Vergleich der Bienen und Blumen, der ihr und den anderen Schwestern als Leitfaden für das Eheleben mitgegeben wurde, zu der gewagten Metapher von Schlüsseln und Schlüssellöchern gekommen ist, und das ausgerechnet bei der Schwester, die nichts darüber wissen sollte.

„Im Park. Der redet auch nicht mehr mit mir,” antwortet Oscar, während sie missgelaunt an den Knöpfen ihrer Jacke dreht.

Kein Wunder, möchte Ginèvre antworten, nachdem du ihm in die Hand gebissen hast; aber die Kleine schiebt ihre nächste Frage ein wie einen ihrer geschickten Schwertschläge.

„Aber das verstehe ich nicht. Meinst du, dass André einen Schlüssel hat…”

„Hör auf… hör auf, Oscar! Sei still! Es gehört sich nicht, über diese Dinge zu sprechen. Und schon gar nicht mit André! Hast du mich verstanden!?”

Sie glaubt selbst nicht an den Satz, der ihr da aus dem Mund kommt, aber sie hält es nicht mehr aus. Jetzt hat sie ihn schon ausgesprochen. Und es grenzt an ein Wunder, dass sie am Ende nicht hinzugefügt hat: „Wenn ihr über diese Dinge sprecht, kommt ihr in die Hölle!”

„Aber ich will doch gar nicht mit André sprechen. Ich mag ihn nicht mehr. Er ist ein blöder Depp… und dauernd muss er mir widersprechen.”

Ein Glück! würde Ginèvre gern sagen, dabei denkt sie es gar nicht. Und sie weiß, dass auch Oscar lügt, die auf ihren Gefährten, den einzigen Menschen, der sie ergänzt, nicht verzichten kann. Und Oscar fühlt sich in diesem Zimmer voller Schminkutensilien und Frauensachen allein und fehl am Platz.

Ginèvre hat allmählich den Verdacht, dass nicht so ganz falsch ist, was hinter vorgehaltenen Fächern über die elfenhafte Schönheit ihrer Schwester gesagt wird.

„Aber ich bin noch wütender geworden, weil er nachher auch sauer auf mich war…”

Eine Unterhaltung von unglaublicher Folgerichtigkeit, kann man nicht anders sagen. Ginèvre braucht eine Weile, um diese kindliche Sprache zu entschlüsseln.

„Also, was ist noch passiert?” gibt sie auf und fragt, denn sie ahnt, dass die Enthüllungen noch nicht vorbei sind. André regt sich nicht auf wegen nichts.

„Ich war so wütend, weil ich das alles nicht hören wollte und er es doch sagte, da habe ich die Schere genommen und ihm eine Locke abgeschnitten… Ich dachte nicht, dass er darüber so wütend wird, wurde er aber doch… und da hat er gesagt, dass ich, weil ich ein Mädchen bin, bald anfangen werde zu bluten… und dass es mir recht geschieht…”

„Nun ja… das erklärt dir Nanny!” sagt Ginèvre, springt erschöpft auf die Füße und erinnert sich daran, dass die alte Amme mit diesem Argument weniger Schwierigkeiten hatte als mit der Peinlichkeit über Bienen und Blumen.

Sie nimmt ihre Schwester bei der Hand und fragt sie, ob sie mit ihr in den Park gehen möchte. Oscar stimmt zu und lässt sie schwören, dass niemand jemals von dem Gespräch wissen wird, das sie geführt haben, während das Palais in Aufruhr war für die nächste weißgekleidete Glückliche. Für die fünfte Jungfrau, die das Haus verließ, um im Bett eines Herzogs eine Frau zu werden, den sie vorher höchstens zweimal gesehen hatte.

Auf der Treppe fragt sich Ginèvre, ob das wohl der Preis ist für ihren Rang und für die Aufmerksamkeit, den sie von allen bekommt. Sie ist überall respektiert: Sie ist die Tochter eines Generals, die Frau eines Ministers, Mutter dreier Söhne. Aber warum, warum fängt sie nach diesem Gespräch an zu fühlen, dass irgend etwas nicht in Ordnung ist?

 

Es ist fast soweit. In der Familienkapelle und im Park ist alles vorbereitet. Die geladenen Gäste unter den hellen Schirmchen lassen die Federn ihrer Fächer hin und her schwanken und klagen über die Hitze. Es ist immer so vornehm, sich zu beklagen!

Gesehene und wieder gesehene Szenen. Für jede Eheschließung dieses Hin und Her, die Unwirklichkeit des Ereignisses, aber letzten Endes sind sie alle gleich, und langweilig. Auch die Braut in ihrem Kleid voller Spitzen und Rüschen sieht irgendwie immer gleich aus.

André geht durch den Park mit verschränkten Armen und der abgeschnittenen Locke, die aus dem blauen Haarband schlüpft. Er ist nur wenige Meter von ihnen entfernt und tut sein bestes, um abweisend auszusehen, aber er ist nicht sehr überzeugend. Nicht einmal, wenn er den Blick abkehrt. Oscar ist verärgert, aber sie schickt ihn nicht weg, als er sich neben sie setzt.

Ginèvre sieht sie. Sie sehen zum Piepen aus – er mit verschränkten Armen und sie mit böse zusammengezogenen Brauen.

André spricht nach einer Weile mit ihr, als wäre nichts. Was er ihr wohl sagt? Er beobachtet sie auf eine Art, die Ginèvre nicht beschreiben könnte. Er redet weiter, auch wenn Oscar gerade vor sich hin sieht und nur einsilbig antwortet. Aber sie ist froh, dass er sich ihr wieder genähert hat, auch wenn sie weiterspielt.

Was würde sie darum geben, wenn ein Mann in ihrem Leben sie nur einmal so ansehen würde wie dieser kleine Junge ihre Schwester! Und was würde sie darum geben, zu wissen, was sie einander sagen!

Auf einmal begreift sie, dass sie ihre unglückliche Schwester beneidet. Das seltsame Wesen mit der ungewissen Zukunft, über das jeder redet, um dann wieder den General anzulächeln und so zu tun, als ob nichts wäre. Sie sieht die beiden und begreift, dass es ihr nicht mehr weh tut, die beiden allein und vom Rest der Welt isoliert zu sehen, weil sie etwas gesehen hat, das ihr vorhin entgangen war: Die beiden kommen ihr nicht mehr vor, als wären sie fehl am Platz. Es ist der Rest der Welt, der fehl am Platz ist.

Sie schaut zu ihrem Mann noch, aber er würdigt sie keines Blickes. Er ist viel größer als sie, und wenn sie ihn von unten ansieht, bemerkt sie, dass seine Nasenlöcher schwarz sind vom Schnupftabak. Sie wendet abgestoßen den Blick ab, aber der Geruch von Tabak bleibt ihr in der Nase, als wollte er sie daran erinnern, dass er neben ihr sitzt.

Während der Priester seine lateinischen Sätze herunterleiert, kann sie Marie Victoire in dem weißen Kleid mit dem enormen Rock kaum erkennen. Sie hat ein kleines Gesichtchen und zwei wasserblaue Äuglein, die aschblonden, federleichten Haare verschwinden unter der weißen Perücke aus Wolle. Ihr Gatte sieht dick und nichtssagend aus. Ginèvre kann ihn nicht ansehen. Sie denkt daran, was er ihr heute nacht antun wird.

Oscar und André tuscheln jetzt zusammen. Sie haben sich versöhnt, ohne um Entschuldigung bitten zu müssen. Ihre herrliche Isolation hat wieder begonnen, ihr Außenseiter-Sein, das sie von den Regeln erlöst, die dreihundert andere Personen zwingen, wie eingezwängte Würste still zu bleiben, während ihre Schminke unter der mörderischen Junisonne wegschmilzt.

Sie amüsieren sich. Die Schwester bekommt mit, wie das Objekt ihrer Heiterkeit zuerst die knollige Nase eines Grafen ist, danach der Schnurrbart einer Herzogin und dann die zerzauste Perücke eines nicht sehr würdevollen Würdenträgers. Das würde sie selbst auch gern tun, sie ist doch erst achtzehn.

Oscar tut etwas seltsames, sie muss vergessen haben, dass sie eigentlich die Beleidigte spielt: Sie steckt die kurzgeschnittene Haarsträhne hinter Andrés Ohr und kichert weiter über die Gäste. André ist glücklich, auch wenn er einen Augenblick lang schüchtern den Blick von ihr abwendet. Dann sieht er sie wieder an… mein Gott, und wie er sie ansieht.

Ginèvre kann sich vorstellen, wie in einigen Jahren in diesem offenen Blick eine stärkere und deutlichere Zuneigung sein wird, und sie hofft, dass auch ihre Schwester das bemerken wird, die jetzt nichtsahnend vor sich hin gluckst.

André versetzt seiner Freundin einen Rippenstoß, als der Baron Sowieso ein besticktes Taschentuch hervorholt, mit seiner großen Nase hineintrompetet und damit den Vortrag des zelebrierenden Priesters übertönt und viele der Geladenen weckt.

Wenn das so weitergeht, geht’s ihnen heute abend an den Kragen; der General hat sie schon entdeckt und in seinem Blick droht Rache. Jetzt sind sie still, und Ginèvre hat den Eindruck, dass die beiden sich auch verstehen, ohne zu sprechen.

 

Neid auf ein zehnjähriges Mädchen aus der Höhe ihrer respekteinflößenden Position? Nein, das ist es nicht.

Es ist das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, indem man sich von den Ereignissen einfach mitreißen ließ, und die brennen jetzt wie Salz auf einer Wunde.

Aber kann ein Mädchen von dreizehn Jahren sich wie ein Maulesel auf die Hinterbeine stellen und dem General sagen, dass sie selbst über ihr Leben entscheiden wird?

Hat Marie Victoire daran gedacht, die jetzt in ihrem Rock versunken vor dem Altar sitzt?

Hat Josephine daran gedacht, die keine Kinder haben kann und sich mit Essen vollstopft, um nicht daran denken zu müssen, dass ihr Gatte sie nicht nur nicht liebt, sondern verachtet?

Oder Gisèle, mit den krausen Haaren und dem herausplatzenden, ansteckenden Lachen, hatte sie daran gedacht, bevor sie lernte, stumm und beherrscht neben ihrem sechzigjährigen Gemahl zu sitzen?

Und Isabeau, die so wahnsinnig verliebt gewesen war in diesen jungen Grafen mit den roten Locken, hatte sie daran gedacht, als man sie dazu zwang, ihren dreißigjährigen Vetter aus Nantes zu heiraten? Sie hatte vielleicht daran gedacht, während sie mit der Klinge auf ihre Pulsader ansetzen wollte, bevor der General sie mit einem Schlag ins Gesicht aus dem Mund bluten ließ.

Wir sehen alle gleich aus, wir Schwestern Jarjayes. Alle mit dem gleichen unbewegten Blick und den nach unten verkniffenen Mundwinkeln, Ausdruck unentrinnbarer Langeweile.

 

Die Zeremonie ist zu Ende. Die eingeladenen Gäste verteilen sich auf dem Rasen, in Richtung Bankett, wo sie Appetitlosigkeit vortäuschen werden, da sie sich – das weiß man ja – schon zu Hause vollgefressen haben. Sie werden an ein paar winzigen Portionen knabbern, denn es ist nicht vornehm, in der Öffentlichkeit zu essen.

Es lebe die Braut! Sie ist endlich versorgt! kommentieren die Damen. Er hat sie alle versorgt, der Herr Graf General.

Alle bis auf eine, die mit militärischem Schritt und ihrem Knappen an der Seite zwischen den Tischen spazieren geht und allen Leuten in die Augen sieht, auf eine Art, wie es keine ihrer Schwestern jemals gewagt hätte.

Im Grunde genommen war sie nie allein, denkt Ginèvre, und sieht den beiden zu, während sie das Büffet plündern.

Daran, wie der Junge ihr folgt und ihr Ratschläge gibt, die sie in ihrem Stolz nicht zu hören scheint, dann aber doch ernst nimmt, begreift sie, dass es so ist, als würde André, der einem manchmal fast zu alt vorkommt, im Verborgenen beharrlicher um sie werben als einer dieser geübten Verführer, die die Korridore so mancher nobler Häuser verseuchen.

Jetzt sitzen sie im Schatten eines Baums und verputzen Süßigkeiten, mitten in der gepflegten Langeweile der anderen.

Ob Oscar jetzt wohl gerade daran denkt, an die Monatsregel, an die Schlüssellöcher und die Schlüssel…? fragt sich Ginèvre und kann kaum glauben, dass sie mit diesem Lausbuben von einer Schwester so ein Gespräch geführt hat, und sie kann eine Träne nicht unterdrücken, als sie sieht, wie André ihr heimlich, eine Sekunde lang, die Hand drückt, und sie sich hochmütig zurückzieht. Worüber sie wohl sprechen? Worüber spricht man wohl mit einem Liebsten, der auch gleichzeitig Freund ist? fragt sich Ginèvre, und denkt, dass in einer kurzen, schüchternen Berührung mehr Liebe sein kann als in einer Hochzeitsfeier, die drei Tage dauern wird.

 

Die Sonne steht noch hoch am Himmel und die Bienen arbeiten in den Feldern. Die Blumen beugen sich manchmal unter einem Windhauch.

Ginèvre sagt sich, dass sie vielleicht zuviel geträumt hat, abgelenkt von der Müdigkeit und von dem Staunen darüber, dass sie von Frau zu Frau sprechen konnte mit der Schwester, die als Mann leben sollte.

Sie sucht die beiden wieder mit den Blicken, unhöflich und unaufmerksam während des x-ten frivolen Gesprächs heute, mit einem liederlichen Frauenzimmer, das sich aufführt, als müsse ihr jeder mit Hochachtung begegnen.

Sie sieht sie, unter dem gleichen Baum, eingeschlafen wie zwei satte Kätzchen.

Da sieht sie einen Hoffnungsschimmer. Nicht für sich selbst, das ist auch nicht so wichtig.

Aber vielleicht wird Oscar die einzige sein, die denn Sinn dieser Geschichte mit den Bienen und Blumen begreift, denkt sie sich und tritt etwas näher zu den beiden schlafenden Rangen, deren Kleider verschmiert sind von Schlamm und Chantilly-Creme.

Und als sie die amputierte Haarsträhne sieht, die nicht daran denkt, sich von dem blauen Haarband einfangen zu lassen, und die kleinen Hände, die sich auf dem Rasen nur ganz leicht berühren, entsteht in ihr eine plötzliche Gewissheit: Vielleicht wird Oscar auch wissen, was die Liebe ist, diese Liebe, wegen der die Schriftsteller Papier, die Maler Leinwände und die Musiker die Stille beschmutzen.

Diese Liebe, über die die Erwachsenen nie mit dir reden, zu beschäftigt mit dem Erzählen der Geschichte über Bienen und Blumen, obwohl sie sie nie begriffen haben: Weil sie ihnen zu gefährlich erscheint für ihre ganzen Verhaltensmaßregeln, die so perfekt abgestimmt sind… und dabei so stabil wie Kartenhäuser.

 

Es ist dunkel. An Schlafen ist nicht zu denken.

Ein Honigschlecken war das Leben für keinen. Letzten Endes hat keiner auch nur ein bisschen Glück erlebt, denkt Ginèvre, während sich das Mondlicht hell auf ihrem Schlafzimmerteppich ergießt. Die Witwenschaft hat sie vom Gatten befreit, und ihre Kinder sind aus dem Haus. Sonst ist nichts geschehen.

Und wer glücklich hätte sein können, verschluckt Worte und Gedanken. Zerstört die Gefühle Tag für Tag, wie in einem Kriegsplan gegen sich selbst.

Vor Wut zittern ihr die Hände, wenn sie daran denkt, denn es macht einen erbeben, wenn man jemanden sieht, der sich das durch die Finger schlüpfen lässt, was wir anderen nur von fern beobachten können.

Die Stimmung im Haus der Jarjayes ist drückend. In den Fluren erklingt nicht mehr das silberhelle Lachen von früher. Schweigen ist da wie ein riesiges Spinnennetz, das die Räume erstickt und einen um den Schlaf bringt…

Die Kinder sind groß geworden. Und das, was sie gehofft hatte, ist nicht geschehen. Es ist nicht geschehen, wofür sie Oscar so oft beneidet und sich selbst deswegen gehasst hatte.

Sie ist so schön geworden, und so einsam. Und jetzt, wo ihr Gesicht so blass und hager ist, sieht sie aus, als hätte sie ihre Seele an den Nagel gehängt. Das hat Ginèvre oft gedacht währen dieses Aufenthalts im Haus ihrer Eltern, und sie begreift nicht, warum. Sie begreift nicht, warum sie den Gesichtsausdruck eines Menschen hat, der das sterben lässt, was ihn am Leben erhält.

Auch André hat sich verändert. Er hat nicht mehr den flinken Schritt und das spontane Lächeln von früher. Er zählt seine Schritte, weil er kaum noch sehen kann, und nickt nur höflich mit dem Kopf. Und er lässt sich leben, wenige Schritte von Oscar entfernt.

Es sind Dinge geschehen, die sie nie für möglich gehalten hätte. Oscar und André sind so fern voneinander, wie sie es sich nie gedacht hätte. Es sind Monate vergangen, und die Entfernung zwischen ihnen scheint aus Eis. Schweigen und Pausen, wo sie sich an hin- und hergehende Scherze und verschwörerische Blicke erinnerte. Sie hat es auf der Haut gefühlt, dass die erstickende Spinnwebe, die die Luft des Hauses verdirbt, gewoben worden ist aus den unausgesprochenen Worten der beiden.

Niemand weiß, was geschehen ist, bevor Oscar ihren Posten gewechselt hat. Und niemand weiß, warum sie André nicht mehr bei sich haben wollte. Es ist einfach geschehen.

Aber es ist auch das geschehen, was sie sich viele Jahre zuvor gedacht hatte, als sie sah, mit welchen Blicken André sie ansah.

Es gibt Stimmen auf den Fluren, Geflüster der Dienerschaft. Aber es ist wahr: Einige haben es mit einigen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört.

Eines Tages hat André die Pistole gegen den General gerichtet. Er hat gesagt, dass er ihn töten wird, wenn er Oscar auch nur anrührt. Er hat sein Leben für Oscar geboten und gesagt, wenn er könnte, würde er mit ihr fliehen und sie heiraten. Oscar hat nichts dazu gesagt. Nicht ein Wort.

Oscar beobachtet ihn von weitem aus den Augenwinkeln, wenn sie sich unbeobachtet glaubt. Aber Ginèvre hat sie oft dabei gesehen, denkt sie, während sie aufsteht, um den runden, blutleeren Mond im Julihimmel zu betrachten.

Wenn sie Andrés gemessene Worte hört, und sieht, wie er die gleichen Gesten ausführt wie schon seit dreißig Jahren, ist Oscar glücklich. Diese Worte und Gesten scheinen einen Durst in ihr zu stillen, aber sie bleibt auf ihrem Stuhl sitzen und sieht ihm nach, wenn er geht. Und hält ihn nicht auf.

André hat aufgehört zu hoffen, dass sie ihm irgend etwas sagen wird.

Ginèvre zertritt das Mondlicht auf dem Teppich, als sie mitten in der Nacht darauf steht.

Aber die Qual dieses vorgetäuschten Ignorierens wird allmählich unüberwindbar, das hat sie in Oscars Augen gesehen, wie einen Blitz. Und sie betet, dass dieser Blitz sie entzwei bricht, zu ihrem eigenen Besten.

 

Einmal waren sie zusammen auf der Veranda, sie, Oscar und Gisèle.

Gisèles Mann ist sehr alt, und sie interessiert sich für junge Männer. Und die jungen Männer steigen aus ihrem Bett ein und aus, aber sie findet trotzdem keinen Frieden. Ihre jugendliche Frechheit hat sie nie verlassen, und mit den Jahren und der Frustration ist sie lächerlich geworden.

Sie trinken Tee.

André geht von den Pferdeställen Richtung Haus. Er hält den Hut in der Hand, mit der anderen streicht er sich die Haare zurück und spart die aus, die die Narbe auf seinem Auge verdecken, und wegen der Julihitze öffnet er die obersten Knöpfe der dunkelblauen Uniform.

Die Bienen plündern die Blumen, die auf dem Tisch stehen. Oscar starrt einen Augenblick auf sie.

Gisèle ruft laut und ausgelassen, und schwenkt dabei die Arme: „Da ist er! Er ist zurück! Komm schon… ausziehen, ausziehen! Wann ist er bloß so hübsch geworden?”

André nickt zum Gruß mit dem Kopf und geht ohne ein Wort ins Haus. Von Oscar kein Gruß.

Oscars Augen glühen Gisèles freches Gesicht mit langsamem Feuer zu Asche, die den Kopf senkt, Tee schlürft und dabei einmal zu oft gluckert; dann entfernt sie sich feige und geht zum General, der am anderen Ende des Gartens ist.

„Stimmt etwas nicht, Oscar?” fragt Ginèvre.

„Nein. Alles in Ordnung.”

„Ich frage mich schon lange, ob du und André gestritten habt.”

„Nein… wir sind nur müde von unserer Arbeit. Sie zehrt einen auf… die Schichten…”

„Ich bitte dich! Du erzählst vielleicht Lügen!”

Ihre Worte haben die Schnelligkeit der Gedanken versengt.

„Ich glaube nicht, dass dich das was angeht,” schnappt Oscars gereizte Stimme.

Ginèvre hat nicht einmal Zeit, ihre Worte zu bereuen, da ist Oscar wieder ins Haus gegangen, und sie befürchtet, dass sie nicht zu André gehen, sondern sich in ihrem Zimmer einschließen und die Klaviertasten foltern wird.

 

In den Nächten, in denen der Mond so rund ist wie ein Kompass, hat sich Ginèvre immer vorgestellt, dass Verliebte leichter zueinander finden müssten. Aber in seinem fleckenlosen Gewand herrscht der Mond über die Gezeiten, das Fließen des Frauenbluts, den Flug der Fledermäuse, die Schritte der Vampire und der Werwölfe. Und es macht alles wenig Sinn. So wie dieses ständige Verbrauchen von Leben.

Aber heute… heute ist etwas geschehen… Während er ihr Portrait ansah, obwohl er nichts erkennen konnte, weinte sie leise und verbarg ihre Tränen in den Händen. Dann ist sie zu ihm gegangen und wollte ihn berühren. Sie hat die Arme ausgestreckt und gezögert, und was eine Umarmung sein sollte, wurde nur eine leichte Berührung auf dem Hemdsärmel. Dann hat die Angst sie wieder besiegt, und ihre Arme lagen wieder, beherrscht wie immer, entlang ihrem Körper. André hat es nicht geahnt, während er weiter das Bild ansah, und sie ist neben ihm geblieben und hatte einen Kloß im Hals.

Sie hat sie gesehen, wie sie unbeweglich vor dem Bild standen, durch die leicht geöffnete Tür hindurch, und nun glaubt sie, dass all diese Liebe vielleicht doch nicht verloren gehen wird. Der General hat sie auch gesehen, aber er hat geschwiegen. Er hat sich umgedreht und ist fortgegangen.

 

Nicht ein Herzschlag sollte verschwendet werden.

Der Flur führt zu Oscar. Und sie wird zu ihr gehen, so wie an jenem fernen Tag Oscar zu ihr kam, um über das Verbotene zu sprechen. Auch wenn sie ihr mit Verachtung im Blick sagen wird, dass sie das nicht zu interessieren hat, wird sie es ihr sagen. Reiß dir die Maske vom Gesicht! Diese Liebe schmerzt wie ein Messerstich, weil du sie im Uniformstoff einsperrst. André weiß es, und nur davon lebt er.

Der Mond zeichnet den Weg, Fenster auf Fenster. Und sie wird nicht anklopfen, denn heute abend wird sie ihre unglückselige Schwester bei den Haaren packen.

 

Ihre Füße bleiben wie angewurzelt auf der Türschwelle.

Aus dem Vorraum sieht man Oscar im Schein einer Kerze. Sie steht da und sagt etwas. André ist bei ihr, Rücken und Ellenbogen auf das Nachtkästchen gestützt. Er ist abgewandt, sein Kopf ist gesenkt.

Oscar spricht weiter, aber Ginèvre kann kein Wort verstehen. Sie weiß selbst nicht, ob weil sie zu weit entfernt ist, oder weil sie Angst hat.

André hebt den Kopf und sagt etwas. Seine Stimme ist leise.

Oscar bedeckt ihr Gesicht mit den Händen und zerbricht die Stille mit einem Schluchzen. Die Haare fallen über ihr Gesicht. Ginèvre bleibt wie versteinert auf der Türschwelle, weil etwas geschehen wird.

André zögert einen Augenblick, dann schließt er sie in die Arme. Er drückt sie an sich und taucht sein Gesicht in ihr Haar. Er spricht leise und sanft zu ihr und wiegt sie in den Armen, streichelt dabei ihr Haar. Und Oscar bleibt an seiner Brust, mit geschlossenen Augen.

Ginèvre tritt einen Schritt zurück, wie zurückgeworfen von diesem Flüstern, und ihr Atmen setzt einen Moment aus, als sie sieht, wie die Lippen der beiden einander suchen und ihre Profile in einem Kuss verschwimmen; die Umarmung wird innig, Seufzer machen Worte unverständlich. Oscar zieht ihm das Hemd aus der Hose, während ihr eigenes über ihre Schulter gleitet und eine Brust in Andrés Händen entblößt. Sie streicht ihm mit den Fingern durchs Haar, und André gleitet mit den Lippen immer tiefer und bringt sie zum stöhnen.

Sie hört die Worte „Ich liebe dich”. Sie hört sie deutlich mitten in den Küssen und Seufzern, während die Hände weiter hinunter gleiten, auf die Hüften ihrer Schwester…

Da läuft sie davon… sie rennt die Strecke, die das Mondlicht hinter den Fenstern vorzeichnet, die Marmortreppen entlang, die ihr die nackten Füße vereisen, in diesem Spinnennetz aus Schweigen, das jene Stimmen aufzulösen scheinen. Sie rennt so weit weg wie möglich, weil sie Angst hat… aber am liebsten wäre sie nie fortgegangen, denkt sie, während sie die Tür hinter sich schließt und ihren zitternden Rücken dagegen lehnt.

Wer versteht schon etwas von Blumen und Bienen? Bedeutet es Freude oder Schmerz, sich die Kleider so vom Leib zu reißen, als würden sie auf der Haut brennen? Und die Romane, was behaupten sie? Und diese grässlichen Nächte, die mit den Jahren nur noch lästig waren… sind die nicht das Schicksal von allen? Und geschieht unter dem Blick des runden Mondes wirklich das, was sie sich so viele Jahre zuvor vorgestellt hatte?

Sie wird nicht schlafen. Das weiß sie. Und ihre Hände umklammern den Türgriff aus Messing und wissen nicht mehr, was sie tun sollen.

 

Sie ist zurückgeschlichen, obwohl das nicht richtig ist. Aber was richtig ist, das weiß sie immer noch nicht.

Es ist richtig, dass das Mondlicht ihr offenbart, was ihr nicht bestimmt war.

Die Anstößigkeit von Oscars Händen, die bebende Liebkosungen zwischen seinen Schenkeln lässt, ihr Mund, der sich öffnet, um inartikulierte Laute auszusprechen. Andrés Gesicht, das sich in ihrem Leib verliert. Die Unanständigkeit, mit der sich die verlangenden Glieder auf dem Weiß des Bettlakens ineinander verschlingen. Die Obszönität seiner Hände, die ihre ungeduldigen Hüften festhalten. Und die Liebesworte, wiederholt bis zur Erschöpfung, während die Stimmen allmählich leiser werden. Dieses unaufhörliche Verlangen nach der Qual. Weil es keine Qual ist. Nicht für sie.

So lassen sie sich entdecken und es gibt einen Aufruhr... Aber nein, morgen werden sie gehen, weil der Tumult der Geschichte nach seinen Opfern verlangt. Das fühlt Ginèvre, aber dieses Mal ist sie sicher, dass sie sich irrt. Sie muss irren. Denn kein Herzschlag darf verschwendet werden. Sie dürfen nie wieder einen einzigen verschwenden, denkt sie, während die beiden einander mit kindlichen Worten liebkosen und der Mond sich hinter den Fenstern amüsiert.

 

„Hier ist es.”

Das Moos hat die Steine fast völlig bedeckt, und die Rosen in ihren prallen Knospen warten darauf, auf den dornigen Zweigen zu bersten, während andere schon ihre weißen Blätter fallen lassen.

„Seid Ihr sicher?”

„Was meint Ihr, ob ich sicher bin, Madame? Ich habe sie selbst hier begraben.”

„Mein Gott…” und ihre Augen füllen sich mit Tränen. „So viel Zeit ist vergangen…” flüstert sie, während sie die Namen auf den Grabsteinen liest. Während der Jahre, die sie in Spanien verbracht hat, hat sie sich oft vorgemacht, dass es nicht wahr sei.

Es ist viel Zeit vergangen, ja.

Die Freiheit ist ausgelöscht worden wie ein Funke im Wind. Der Terror hat die Gleichheit überrannt. Und die Brüderlichkeit ist nur noch ein Wort.

Jetzt hält der Korse die Zügel des Pferdes, das sich im Wind aufbäumt, und Europa beugt den Kopf vor der Grandeur.

„Geht es Euch gut, Madame?”

„Ja… gewiss,” murmelt sie in einem Französisch, das von einem leichten Einschlag ins Spanische befleckt ist.

Der Wind liebkost das hohe Gras. Ein paar vereinzelte Bienen suchen im Herbstanfang nach Nektar.

„Ich habe sie beneidet… und ich habe gebetet, dass das Leben ihnen alles das gibt, was es mir vorenthalten hatte… Nicht diese Grabsteine…”

Der Mann hebt mit dem Daumen ein wenig das Visier seiner Mütze. Manche Dinge hören nie auf, weh zu tun.

„Ihr seht Eurer Schwester ähnlich.”

„Sie war sehr schön, nicht wahr?”

„Ja.”

„Und sie war auch so süß wie Honig…” antwortet sie, versunken in den Bildern und der Erinnerung an die im Dunkeln geflüsterten Worte, die sie damals gehört hatte.

„Aber das wusste nur er.”

„Ja… das hatte nur er verstanden…”

„Er hat sie so sehr geliebt, dass er daran gestorben ist.”

„Sie hat ihn auch so sehr geliebt, dass sie daran gestorben ist.”

Man hört die ländlichen Geräusche, die den Sonnenuntergang ankündigen.

„Ja. Das habe ich auch immer gewusst,” antwortet Alain und neigt den Kopf.

Eine Biene setzt sich auf eine halbgeöffnete Rose.

„Jetzt sind sie für immer zusammen…” flüstert Ginèvres Stimme in Gedanken.

„Kommt, Madame. Es kommt Wind auf, und bald ist es dunkel.” Er bietet ihr den Arm.

Ginèvre erbebt einen Augenblick, dann nimmt sie sein Angebot an. Er betrachtet sie kurz, mit einem stillen Lächeln.

Dann entfernen sie sich. Und im Abendrot, das den Himmel überflutet, kann man den Kreis des Mondes sehen.

Pubblicazione del sito Little Corner dell'ottobre 2006

Fine

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Translation: Arianna mail to: Amalthea2304@yahoo.de

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